"Der Irrglaube, dass mehr Haft mehr Sicherheit bietet, führt in die Sackgasse", sagt Vize-Vollzugsdirektor Christian Timm.

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Wien - Christian Timm hat den Rummel satt. Sein Bedarf an sensationslüsternen Reportern, die seine Kollegen und er durch die Gefängnisse schleusen sollen, ist ebenso gedeckt wie jener an gutgemeinten Ratschlägen, die meistens eines nicht verrieten: "Wie wir all die geforderten Verbesserungen bezahlen sollen."

Vor allem ärgert sich Timm aber darüber, dass die Prügel regelmäßig jene abbekämen, die mit den Gefängnissen eigentlich nur das "letzte Mittel" im Umgang mit Verbrechern verwalteten. Natürlich sei die infolge von Gewaltexzessen entflammte Kritik an den Haftbedingungen legitim, sagt der stellvertretende Leiter der Strafvollzugsdirektion, "aber bei der Diskussion wedelt der Schwanz mit dem Hund". Man dürfe das komplexe Problem Kriminalität, das Angelegenheit der gesamten Gesellschaft sei, nicht einfach "am Ende der Kette" in den Gefängnissen abladen, doch leider herrsche ein Denken vor, wie es einst Arik Brauer besungen hat: "Eini ins Häfn, de Tür fest zua."

Weniger Haft in Nordeuropa

Zu denken geben Timm, der früher die Strafanstalt in Stein in Niederösterreich geleitet hat, jene Zahlen, die sich im jüngsten Bericht des Europarats finden. Österreich sperrt delinquente Bürger demnach weit eifriger ein als viele vergleichbare Staaten Nord- und Mitteleuropas: Während hierzulande auf 100.000 Einwohner 104 Häftlinge kommen, sind es in Deutschland 87, in Norwegen, Schweden, Dänemark und den Niederlanden nur um die 70 und in Finnland gar nur 61 Insassen. Die Quote der unter 18-Jährigen im Häfn zählt mit 1,6 Prozent von rund 8800 Gefangenen (Zahlen von 2011) zu den höchsten innerhalb der EU.

Bei den Kosten dreht sich der Spieß allerdings um. Schweden (260 Euro), Norwegen (330 Euro) und die Niederlande (215 Euro) geben mehr als das Doppelte als Österreich mit seinen 102 Euro pro Tag und Häftling aus. Auch Deutschland, Irland, Großbritannien, Luxemburg und die restlichen nordischen Staaten sind spendabler. Andere Zustände herrschen freilich in Osteuropa und Teilen Südeuropas mit noch viel höheren Haftzahlen bei geringen Aufwendungen.

"Viel einsperren, wenig ausgeben - das kann nicht funktionieren", sagt Timm, "doch bei uns tut man so, als wären die hohen Haftzahlen von Gott gegeben. Ich glaube aber nicht, dass die Menschen bei uns so viel anders sind als in Deutschland oder Skandinavien."

Timm mahnt, endlich die Verfassung ernst zu nehmen, die Haft nur als Ultima Ratio definiert. Als Alternative biete sich etwa der elektronisch überwachte Hausarrest an, der bis dato sparsam eingesetzt wird. In drei Jahren bekamen 1500 Häftlinge die vieldiskutierte Fußfessel angelegt, rechnet der Beamte vor, davon ganze 14 Untersuchungshäftlinge. "Das ist zweifellos ausbaubar", sagt Timm, dem derzeit kein einziger jugendlicher U-Häftling bekannt ist, der die Fessel genehmigt bekommen hat: "Aber diese Entscheidung treffen nicht wir im Strafvollzug, sondern die Richter."

An den Eisentoren der Gefängnisse ende der eigene Einfluss auch dann, wenn es darum gehe, Ex-Insassen bei den ersten Schritten ins neue Leben zu helfen. Viele dieser Menschen seien "total abgestürzt", sagt Timm, "die können nicht mehr zu ihren Familien zurück - oder sollten das auch nicht tun". Der Strafvollzug sei aber nicht dafür zuständig, Entlassenen einen Wohnplatz zu besorgen, "darum müssen sich die Gemeinden kümmern".

Zu viele Straftäter würden nach dem Schwarz-Weiß-Prinzip - entweder Haft oder Freiheit - behandelt, kritisiert Timm: Sie müssten ihrer Strafe "unnötigerweise" bis zum Schluss absitzen, um dann "ohne jede Steuerung" entlassen zu werden. Klüger wären kürzere Haftzeiten, denen aber eine umso längere Probezeit folgen sollte. "Das bringt mehr Kontrolle und Sicherheit bei weniger Haft", sagt Timm, "und in den Anstalten könnten wir mit gleichem Personalstand bessere Qualität bieten." Denn eines sei klar: "Der Irrglaube, dass mehr Haft mehr Sicherheit bietet, führt in die Sackgasse." (Gerald John, DER STANDARD, 25.7.2013)