Die Gewebeprobe aus einem menschlichen Gehirn zeigt Amyloid-Plaques als Folge der Prionen-Erkrankung Creutzfeldt-Jakob. Das Prionprotein, eines der Forschungsthemen von Kurt Wüthrich, lagert sich in den Nervenzellen ab, was schließlich zur völligen Degeneration des Gehirns führt.

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Kurt Wüthrich (74) studierte an der Universität Bern Chemie, Physik und Mathematik. Es folgten Aufenthalte an der Universität Berkeley in Kalifornien und an den Bell Laboratories in New Jersey. Wüthrich forscht und lehrt unter anderem an der ETH Zürich und am Scripps Research Institute in Kalifornien. Im Rahmen der Alpbacher Technologiegespräche diskutiert er am 23. 8. um 17.45 Uhr über "Herausforderungen in der biomedizinischen Forschung". AIT-Chef Wolfgang Knoll moderiert.

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STANDARD: Sie waren nicht der erste Wissenschafter, der die Struktur von Proteinen erforscht hat. Warum war Ihre Arbeit dennoch so wichtig?

Wüthrich: Die Struktur von Proteinen ist seit den frühen 1960er-Jahren bekannt. Man hat sie kristallisiert und mit Röntgenstrahlen untersucht. Wir haben nun aber die Eiweißmoleküle in wässrigen Lösungen beobachtet, die den Körperflüssigkeiten sehr ähnlich sind. Das war das Revolutionäre an unserer Arbeit. Es gibt zwar nur geringe Unterschiede in der inneren Architektur, aber umso größere auf der Oberfläche. Und genau von der Oberflächenbeschaffenheit hängt ab, wie ein Protein mit anderen Molekülen reagiert.

STANDARD: Sie haben konkret am Prionprotein geforscht. Welche Bedeutung hat dieses Eiweißmolekül?

Wüthrich: Das Prionprotein hat eine Schlüsselbedeutung bei der Entstehung der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung im Menschen und von BSE bei Rindern. Entartete Formen des Prionproteins lagern sich in den Nervenzellen ab und führen zur völligen Degeneration des Gehirns. Der Grund dafür ist aber nach wie vor nicht geklärt. Man weiß auch nicht, welche Funktion das Prionprotein im gesunden Körper hat.

STANDARD: Muss es denn eine Funktion im gesunden Körper haben?

Wüthrich: Es ist nicht anzunehmen, dass dieses Protein im gesamten Tierreich vorkommen würde, wenn es nur die Aufgabe hätte, den Körper krank zu machen. Es muss eine wichtige physiologische Funktion haben. Viele Gruppen versuchen dieses Rätsel zu lösen.

STANDARD: Was vermuten Sie?

Wüthrich: Möglicherweise hat es eine Signalübertragungsfunktion und ist mit dem Wach-Schlaf-Rhythmus verknüpft. Aber das sind wirklich Vermutungen. Wir haben immerhin entdeckt, dass sich die Struktur des Moleküls gezielt wesentlich beeinflussen lässt und Mäuse mit modifizierten Prionproteinen gezüchtet. Es dauert aber mit Sicherheit noch Jahre, bis es konkrete Ergebnisse gibt.

STANDARD: Sie sind 74 und noch immer an mindestens vier Universitäten und Instituten tätig. Die Analyse dieses einen Eiweißmoleküls ist vermutlich nicht Ihr einziges Forschungsgebiet.

Wüthrich: Ich beschäftige mich mit vielerlei Arten von Eiweißmolekülen. Mein heißestes Thema sind derzeit Rezeptoren, die an G-Proteine gekoppelt sind. Das erforsche ich in Kalifornien und in Schanghai. Etwa 40 Prozent aller rezeptpflichtigen Medikamente docken an sie an – Betablocker zum Beispiel. Je mehr wir darüber wissen, desto leichter sollte die Entwicklung neuer Arzneimittel sein. Da sind wir in unserem Fach auf einem guten Weg: In den vergangenen Jahren gelangen in diesem Bereich einige Durchbrüche. Der Chemie-Nobelpreis 2012 wurde für Forschungen an Rezeptoren der G-Proteine vergeben.

STANDARD: Da Sie von Ihrem Fach sprechen: Die Chemie wird seit Jahren trotz dieser Entdeckungen abgeschrieben. Es heißt, sie sei längst in anderen Bereiche wie Biologie oder Physik aufgegangen. Was denken Sie?

Wüthrich: Mich wundert das nicht. Es hat sich im Laufe der Jahre gezeigt, dass sich die Chemiker nicht präsentieren können. Schauen Sie sich die Medienpräsenz der Physiker zum Vergleich an. Da wird ein kleiner, aber wichtiger Schritt zur Entdeckung des Higgs-Teilchens zu einem perfekt orchestrierten Event. Was geschah im Jahr der Chemie 2011? Da wurde zum hundertsten Mal Marie Curie aus dem Schrank geholt.

STANDARD: Man könnte es auch positiv sehen: Die Chemiker versuchen am Boden zu bleiben und ohne Show auszukommen.

Wüthrich: Was die Physik macht, ist ja ernsthafte Wissenschaft, nicht ausschließlich Show. Die Chemie hat natürlich auch das Problem, viel stärker als jedes andere Fach mit der Industrie verknüpft zu sein. Das ist in der öffentlichen Meinung einzementiert. Wenn es eine Explosion in einer Chemiefabrik gibt, ist die Chemie schuld. Wenn es zu einem Unfall in einem Atomkraftwerk kommt, dann sagt niemand, dass die Physik dafür verantwortlich ist.

STANDARD: Als Sie 2002 den Chemie-Nobelpreis erhalten hatten, waren sie fast im pensionsreifen Alter von 65 Jahren. Das Schweizer Parlament hat dann einen Gesetzeszusatz beschlossen, wonach Professoren der ETHs und speziell Nobelpreisträger länger an ihren Forschungseinrichtungen arbeiten können. Ist das das richtige Signal an die jungen Forscher?

Wüthrich: Es ist zumindest kein falsches Signal, weil es eine Ausnahmeregelung ist. Insgesamt wurde der Gesetzeszusatz bisher meines Wissens nach nur auf vier Wissenschafter der ETH Zürich und der ETH Lausanne angewandt. In Deutschland gibt es übrigens eine ähnliche Aufweichung der Pensionsbestimmungen, sodass zum Beispiel der Physik-Nobelpreisträger Theodor Hänsch bis 75 Max-Planck-Institutsdirektor sein kann.