Nichts "Außerordentliches" werde in Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meister gesprochen. Auch seien die Gestalten dieses Bildungs- und Entwicklungsromans "weder groß noch wunderbar". Friedrich Schlegels Aufsatz Über Goethes Meister, 1798 in dem Periodikum Athenäum erschienen, erkennt dem Werk dennoch den höchsten Lorbeer zu.

Schlegel (1772-1829) macht sich die eigenwillige Anlage von Wilhelm Meisters Lehrjahre für sein frühromantisches Programm zunutze. Der Pastorensohn aus Hannover ist gerade dabei, die Grundzüge einer neuen Universalpoesie zu entwerfen. Aus der Beschäftigung mit der Antike hat Schlegel die Defizite der Moderne abgeleitet. Die klassische Kunst ist ihm - wie seinem Vorgänger Winckelmann - nicht mehr bloß vorbildlich. Die plumpe Nachahmung antiker Vorbilder erscheint ihm lügenhaft.

Schlegel möchte zur Anschauung des "Objektiven" gelangen. Als Frühromantiker glaubt er an die Vermittlungskraft einzelner Teile und gesonderter Disziplinen. So wie Geschichte in Theorie umschlage, müsse Theorie unfehlbar in Poesie münden. Der begeisterte Republikaner Schlegel weiß, ob vermeintlich oder nicht, den Entwicklungsgang der Geschichte auf seiner Seite. Ihm ist klar, dass Kunst und Dichtung noch nicht seinem Idealbild entsprechen.

Ideen wie Kants Weltbürger-Republik spuken in den 1790er-Jahren in den fortschrittlichsten Köpfen herum. Die Französische Revolution tut, bis zum Einsetzen des jakobinischen Terrors 1793, ein Übriges. Den Deutschen wird ihre eigene historische Rückständigkeit schmerzlich bewusst. Schlegel denkt wie sein Bruder August Wilhelm an die Zusammenführung des vorderhand Disparaten: Die höchste zu erstrebende Höhe sei diejenige, auf der "die Kunst eine Wissenschaft und das Leben eine Kunst sein wird". Friedrich Schlegel beginnt, die Zeitschrift Athenäum mit Fragmenten zu fluten. Nur im immer rascheren Wechsel der "Erscheinungen" könne die "einige menschliche Natur" fassbar werden. Die Frühromantiker feiern das Halbfertige: das mutwillig Widersprüchliche, das knapp Angerissene. Sie nehmen auf geringstem Raum Tuchfühlung auf mit dem sogenannten Weltgeist.

Goethe leistet in seinem Wilhelm Meister wahrhaft Progressives. Er entfaltet in Schlegels Darstellung den Werdegang eines Menschen (Wilhelms). Darüber hinaus gelingt ihm der Entwurf einer "Naturgeschichte des Schönen", indem es eines "von den Büchern" sei, "welche sich selbst beurteilen". Jeder Teil des Romans bilde ein "System für sich". Zugleich tritt mit den Lehrjahren die deutsche Dichtung in ihr reflexives Zeitalter ein. Kritik, wie Friedrich Schlegel sie übt, ist dem Kunstwerk gleichberechtigt an die Seite zu stellen. Die Reflexion tendiert ins Unabschließbare. Zur Darstellung gelangt "eine sich wie ins Unendliche immer wieder selbst anschauende Natur".

Schlegels frühromantische Euphorie hat bekanntlich nicht ewig vorgehalten. 1808 trat der Pastorensohn zum Katholizismus über. Hegel und Heine haben ihn wüst verspottet. Zur Last wurde Friedrich Schlegel mehrerlei gelegt: Er habe sich über Schillers Gedicht Die Glocke lustig gemacht. Er sei faul gewesen. Er habe sich in späteren Jahren vor allem mit Essen und Trinken beschäftigt und sei darüber korpulent geworden.

Friedrich Schlegels frühe Schriften bleiben gültige Wegweiser ins Reich der romantischen Willkür. In ihnen wird die "Harmonie von Dissonanzen" hörbar, die Schlegel an Goethe so gut gefiel.  (Ronald Pohl, DER STANDARD, 24./25.8.2013)