Permanente Erreichbarkeit wird nicht verlangt. Sie wird vorausgesetzt. Was technisch machbar ist, ist Wirklichkeit geworden - Rund-um-die-Uhr-Stand-by für Anrufe, Mails, SMS, Terminplanungen - durch alle Zeitzonen und alle individuellen Planungen. Das hat Vorteile. Die digitale Anwesenheit macht flexibel, reagibel und örtlich unabhängig. In Unternehmen gibt es mittlerweile mehr Arbeitszeitmodelle als Abteilungen, die Arbeit ist somit vordergründig individueller geworden, mit Kernarbeitszeiten kann sich dadurch aber kaum mehr einer begnügen. Und: Ganz verdrängt ist das "mobile device" von der Liste der Statussymbole ja noch nicht - wer dauernd gefragt, angerufen wird und dauernd entscheiden muss, der hat offensichtlich einen wichtigen Job und wirklich etwas zu sagen, zu bestimmen. Eitelkeit macht auch verfügbar.

Seit die deutsche Arbeitsministerin Ursula von der Leyen heuer im Juni aber unter dem Titel des psychischen Arbeitsschutzes gesetzliche Regelungen für handyfreie Ruhezonen verlangt hat, sind die negativen Seiten wieder stark in den Fokus gerückt: Der Zwang zur Verfügbarkeit, zum Reagieren, zum Checken aller Smartphone-Eingänge vor dem Schlafengehen, im Urlaub, während der Kindstaufe, beim Kochen, Abendessen, macht auf Dauer krank - wer nicht abschalten kann, will und letztlich darf, weil der Unternehmens- und Zeitgeist es verbieten, lebt mit permanent hohem Cortisolspiegel und dieses Stresshormon wirkt sich mit der Zeit in Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychischen Irritationen, Depressionen, aus. Ganz abgesehen vom Leiden der Partner und Angehörigen unter permanentem Telefonterror und folgend sicher weniger harmonisch entspannt verbrachten Abenden, Feiertagen und Urlauben.

Wer nun schulterzuckend meint, es gehöre halt zum Jobdesign von Führungskräften, von Top-Managern, je 24 Stunden an 365 Tagen online zu sein (dafür werden sie ja auch recht gut entlohnt), der kann schon recht haben. Aber das ist nur ein Teil des Bildes, denn verschiedenen Untersuchungen zufolge sind bis zu zwei Drittel aller Berufstätigen während der Feiertage, nach Dienstschluss beruflich erreichbar. Selbstständige als eigene Kategorie harren da noch einem Beforschtwerden.

Lob für Selbstschutz und bedachte Gesundheitsvorsorge darf bei solchem Breitenphänomen in Abrede gestellt werden: Mag hie und da beachtliches Engagement für die Arbeitsagenden hinter der Verfügbarkeit stehen, so werden doch Existenz- und Jobängste in einem Klima des Supertempos und des Wettbewerbs die Hauptfaktoren sein, alle Grenzen fallen zu lassen - so wie das in der Firma eben vorgelebt, vorausgesetzt wird. Vorankommen heißt Engagement zeigen - für Frauen noch mehr als für Männer - und Erstere sind beruflich noch ausgedehnter erreichbar als Männer.

Also: Wo zieht sich die Grenze zwischen digitaler Freiheit und digitaler Versklavung? Das Arbeitszeitgesetz ist eindeutig mit seinen maximalen Arbeitszeiten und verpflichtenden Ruhezeiten. Allerdings: Die digitalen Grenzbrecher haben bei diesen Regelungen nicht mitgeschrieben. Plus: Rechtlich gesehen kann auch niemand gezwungen werden, in der Freizeit für den Chef dauernd erreichbar zu sein - dabei schließt sich aber der Kreis zur eigenen Wichtigkeit und zur Jobangst.

Mach es dir aus mit deinen Leuten

Bleibt, wie viele Arbeitsrechtler meinen, der Handlungsbedarf bei den Unternehmen in Form klarer Nutzungsrichtlinien. Europas größer Autobauer VW schaltet auf Betreiben des Betriebsrates zwischen 18.15 und 7.00 Früh die Mail-Lieferungen ab. Das gilt natürlich nicht für Führungskräfte, telefonieren dürfen alle weiter und immer. In vielen Branchen mit internationaler Aufstellung werden solche Regeln als "schlicht nicht möglich" kommentiert. "Verantwortliches Handeln der Vorgesetzten" wird überwiegend als Lösung der Grenzfrage genannt. Am besten durch verbindliche Mitarbeitergespräche, also: Mach es dir aus mit deinen Leuten. Dass das höchstens schlecht und recht funktioniert, zeigen die Anfragen der Betriebsräte bei der heimischen Gewerkschaft zum Thema.

Angesichts der betriebs- und volkswirtschaftlichen Auswirkungen von massenhaften Erschöpfungszuständen wird der Umgang mit digitaler Totalanwesenheit eines der Riesenthemen für Personalverantwortliche und auch für die Sozialpartner, das Arbeitsrecht, die Tarifparteien, werden. Was der sogenannte Zeitgeist dazu sagt, wird sich in den Diskussionen rund um Apples neue iPhone-Generation zeigen, deren Besitzer nun fixe Ausschaltzeiten programmieren können. Ob sich damit relativiert, dass alle immer schauen müssen, dass kein Anruf, keine Mail, kein SMS jemals verlorengeht oder länger als ein paar Minuten auf seine Wahrnehmung und Beantwortung wartet oder ob wohl doch die praktizierte Selbstdisziplin weiterhin ein Königsweg bleibt? (Karin Bauer, KarrierenStandards, 1.10.2012)