Beke Worthmann: Wollte schon immer "alles perfekt machen, für alle perfekt sein".

Foto: Stefanie Brandenburg

Beke Worthmann:
Dein Leben hat Gewicht. Elf Porträts junger Magersüchtiger.
Schwarzkopf & Schwarzkopf 2013, € 10,30

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"Die Krankheit macht aus Menschen Monster", bringt Beke Worthmann die typischen Charakteristika von an Anorexia nervosa erkrankten Personen in ihrem Buch "Dein Leben hat Gewicht" auf den Punkt. Wenn sich die eigene Welt nur noch um Kalorien und schwindende Kilos dreht und man auch im lebensbedrohlichen Zustand das Hungern wie ein "gefühlloser Roboter" und bar jeder Vernunft fortführt, herrscht Alarmstufe Rot. Die heute 17-jährige Beke Worthmann weiß, wovon sie spricht. Bereits mit 13 anorektisch, kämpfte sie bis vor kurzem gegen die Sucht an. Trotz vieler Niederlagen in den vergangenen Jahren schaffte sie den Absprung und kann heute sagen: "Es ist nie zu spät, es geht", die Krankheit lässt sich überwinden.

Aufklärungsdefizite auffüllen

Ihr Buch ist ein zugleich erschreckendes und ermutigendes Dokument über Anorexia nervosa: Worthmann protokolliert darin ihre eigene Leidensgeschichte und die von zehn weiteren Jugendlichen (darunter zwei Burschen) zwischen 14 und 18 Jahren. Die Berichte rücken einiges an falschen und auch mangelhaften Informationen, die über Magersucht im Umlauf sind, ins richtige Licht und möchten identifizierte Fehler in der Behandlung sowie im Umgang mit daran Erkrankten korrigieren. Und außerdem, so die Hoffnung der Autorin, einen Beitrag dazu leisten, die immense Zahl an Erkrankungen zu reduzieren.

Alleine in Deutschland sind 220.000 junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren laut Ärztekammer Niedersachsen von Anorexie und Bulimie betroffen. Nur rund die Hälfte von ihnen gesundet und in 15 bis 20 Prozent der Fälle enden diese Essstörungen tödlich. Ähnlich schaut es in Österreich nach Angaben des Instituts Suchtprävention aus: Hierzulande seien mindestens 2.500 Mädchen zwischen 15 und 20 Jahren magersüchtig, und 5.000 Mädchen dieser Altersklasse würden unter einer subklinischen Essstörung leiden. Der Anteil der Burschen betrage zwar nur ein bis zehn Prozent, doch auch hier sei die Tendenz steigend.

Ursachen für Anorexie und Bulimie

Doch was verbirgt sich eigentlich hinter dieser fatalen Krankheit? Geht es wirklich nur ums Dünnsein, um Modelmaße, um einen kulturell bedingten und medial betonten Schlankheitswahn, der neuerdings auch unter dem Verdikt Gesundheit fungiert, wie so gerne kolportiert wird? Die Ursachen für eine Essstörung seien immer multifaktoral, erklärt Wally Wünsch-Leiteritz, Fachärztin für Innere Medizin, Psychotherapie und Ernährungsmedizin, in einem Interview im Buch: "Die Krankheit hat typischerweise mit einem niedrigen Selbstwert und einer schlechten Selbstbewertung und damit auch Körperbewertung zu tun." Die Betroffenen seien "hochsensibel, sehr einfühlsam, sehr beeinflussbar und außenorientiert, womit sie sich von den Problematiken anderer zu sehr einnehmen lassen. Sie nehmen sich vieles zu sehr zu Herzen und sind sehr selbstkritisch", meint Wünsch-Leiteritz. Gerade AnorektikerInnen könnten sich äußerst schlecht abgrenzen und hätten ein hohes Maß an Perfektionismus und Leistungsstreben. Neuen Forschungen zufolge würden Magersüchtige "eher detailgenau denken und weniger das große Ganze im Blick haben".

Zudem spiele es eine Rolle, wie in der Gesellschaft und vor allem in der Familie mit dem Thema Körper, Figur, Gewicht und Essen umgegangen wird. Insofern hätten natürlich auch die Medien Einfluss, indem sie unrealistische Schlankheitsideale befördern und dadurch großen Druck auf immer jüngere, unreife Menschen ausüben. Die mediale Darstellung habe allerdings und glücklicherweise nicht bei allen die gleichen Folgen. Das bedeutet, dass einer Essstörung so gut wie immer eine Störung im Gefühlsleben und der Gefühlsregulation voraus gehe, ist die Ärztin überzeugt. Deshalb sei es besonders wichtig, so ihr Appell an die Angehörigen, nicht vorwurfsvoll zu sein und "nicht zu zeigen, wie es einen mitnimmt, eben weil die Betroffenen selbst hochsensibel sind, und sich dann in Schuldgefühle verstricken, was wiederum die kranke Symptomatik antreibt".

Anlässe und Auslöser

Ebenso wie ursächlich mehrere Faktoren für das Auftreten einer Essstörung verantwortlich zeichnen, sind es auch die Auslöser. Vom Zeitpunkt her seien es aber vor allem Schwellensituationen wie Pubertät, Beginn der Volljährigkeit und manchmal auch der Wechseljahre. "Man geht davon aus", so Wünsch-Leiteritz, dass es um Lebenssituationen mit besonderen Anforderungen geht, denen die Betroffenen nicht gewachsen zu sein glauben. In der Pubertät sei das beispielsweise die geforderte Ich-Entwicklung, die mit Selbstbehauptung und vermehrter Eigenständigkeit einher geht.

Die beschriebenen Ursachen und Anlässe einer Magersucht spiegeln sich in den elf Berichten des Buches wider. Sie alle leiden oder litten unter einem extrem niedrigen Selbstwertgefühl sowie einem verzerrten Selbstbild und sehnten sich nach Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Auf der Suche nach Anerkennung, danach, endlich wahr genommen und gemocht zu werden, aufzufallen und damit anders zu sein, kamen ihnen ihr perfektionistisches Streben und ihr ausgeprägter Ehrgeiz entgegen. Gleichzeitig gab ihnen die Sucht einen gewissen Halt, einen Ankerpunkt, der je mehr sie darin versanken, zum alleinigen Sinn ihres Lebens wurde.

Magersucht als Hilfeschrei

"Ich bezeichne mich selbst als dumme, kranke, fette und asoziale Kuh mit Pferdefresse", schreibt Rebekka (16). Sie habe sich in "die kranke Welt der Verrückten" geflüchtet, "um Schutz zu suchen, um das Fühlen zu verlernen, um mich zu verstecken". Zu gerne hätte sie Aufmerksamkeit bekommen, "weil ich wollte, dass man mir ansah, mich nicht wohlzufühlen". Angefangen habe es mit einem Gefühl der "Unreinheit", das Hungern wirkte "reinigend".

"Nichts von dem, was ich mache, finde ich toll", schreibt Tobias (17), der sich als "komplexbeladen und unsicher" empfindet. Als er mit 15 magersüchtig wurde, sei das berauschend und irgendwie sinngebend gewesen: "Nichts schmeckt so gut, wie sich Dünnsein anfühlt", zitiert er das Model Kate Moss, die für ihre Aussage damals mediale Schelte bekam. Die gestylten, durchtrainierten Männerkörper auf den Magazinseiten waren auslösend: "Ich wollte auch so ein heißer Typ sein."

Überforderung und Herausforderung

Dünn war Lisa (17) schon immer, aber als sie durch die Einnahme der Pille an Gewicht zulegte und sie Komplimente für ihre hübsche Figur erntete, empfand sie das als "alarmierend" und begann zu fasten. Dazu kam, dass sie bereits mit zehn Jahren für ihre behinderte Mutter da sein musste und überfordert war. Die Magersucht vermittelte ihr Sicherheit und Halt.

Nicht mehr um jeden Preis dünn sein müssen

Und die Autorin Beke Worthmann bekennt, dass sie schon immer "alles perfekt machen, für alle perfekt sein" und Mittelmäßigkeit überbieten wollte. "Mein Perfektionismus war der Motor für die Sucht" und der Auslöser rückblickend "glasklar": Anlässlich ihrer Firmung forderte sie ihren Vater auf, ein paar Kilos abzuspecken, um wieder in seinen Anzug zu passen. Als er tatsächlich fastete, quälten sie Schuldgefühle - "es war, als hätte er sich mir unterworfen" -, und sie begann es ihm gleichzutun und wurde immer magerer. Am Ende des Buches schreibt sie: "Für mich wird es nicht mehr darum gehen, um jeden Preis dünn sein zu müssen. Meine Welt dreht sich jetzt um Wichtigeres. Ich hoffe, deine tut es auch." (Dagmar Buchta, dieStandard.at, 8.9.2013)