Thomas Coraghessan Boyle bei "Eine Stadt, ein Buch" in Wien: "Es geht immer um Vermögende und Habenichtse."

Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Ihr Roman "The Tortilla Curtain" ("América", 1996) wurde an vielen amerikanischen Schulen und Universitäten verteilt und so zu einem Ihrer meistverkauften Bücher. Hätten Sie es auch für die Leseaktion in Wien oder auch anderswo ausgesucht?

Boyle: Ich freue mich natürlich, dass "América" eine Art Klassiker geworden ist - nicht nur in den USA - und dass Wien es für sein Programm "Eine Stadt, ein Buch" ausgewählt hat. Und ja, das Buch ist ein gutes Beispiel für meine Arbeit insgesamt, weil in vielen meiner Romane soziales und Umweltengagement eine Rolle spielen. Eines meiner neuen Bücher, "When the Killing is Done" ("Wenn das Schlachten vorbei ist", 2012), wurde mit "América" verglichen und ist ebenfalls Lektüre an etlichen Schulen und Unis. Während "The Tortilla Curtain" von der illegalen Einwanderung in Kalifornien und der dortigen Zweiklassengesellschaft handelt, geht es in "Killing" darum, welche Wirkung die Spezies Mensch auf andere Geschöpfe auf dieser Erde hat.

STANDARD: Welchen besonderen Wert könnte die Lektüre von "América" für Leser in Wien, in Mitteleuropa haben?

Boyle: Wie andere Industriestaaten hat auch Österreich eine starke Zuwanderung von Menschen erlebt, die ein besseres Arbeits- und politisches Klima suchen. Als "Tortilla" 1995 erschien, wurde es gefeiert, aber auch heftig diskutiert - nicht nur in den USA, sondern in ganz Europa, weil dieselben Fragen aktuell sind: Es geht immer um Vermögende und Habenichtse, um nationale Identität und staatliche Grenzen.

STANDARD: Wie gut erfüllen Gratisbuchaktionen wie diese jetzt in Wien ihren Zweck?

Boyle: Was mir am besten an ihnen gefällt, ist, dass sie einen nicht unbedeutenden Teil der Bevölkerung dazu bringen, sich über ein bestimmtes Werk zu unterhalten, sich damit auseinanderzusetzen. Ohne solche Initiativen wäre es ja sehr unwahrscheinlich, dass viele Leute zur gleichen Zeit das gleiche Buch lesen - was etwa bei TV-Shows, Sportereignissen oder Filmen durchaus üblich ist.

STANDARD: Ist das nur ein subjektiver Eindruck, oder sind Sie tatsächlich häufiger in deutschsprachigen Ländern als woanders im Ausland?

Boyle: Ja, ich war öfters in den deutschsprachigen als in anderen Ländern auf Tournee; Frankreich und Großbritannien kommen an zweiter Stelle. Warum? Nun, ganz klar, weil die Bewohner dieser Länder einen hervorragenden literarischen Geschmack haben. (lacht) Dazu kommt, dass nach meinem Gefühl Österreicher, Deutsche und Schweizer oft ein englischsprachiges Programm schätzen können. Das ermöglicht mir, auf der Bühne so zu agieren, wie ich es in den USA gewohnt bin. Und wie Sie wissen, teile ich sehr gern das Drama und den Humor meiner Geschichten und Romane mit einer lebhaften Zuhörerschaft lieber als mit einer leblosen. A live audience is always preferable to a dead one. (Michael Freund, DER STANDARD, 11.9.2013)