Julia Culen.

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Management ist kein Zuckerschlecken: jeden Tag eine andere Welt und keine Besserung in Sicht. Die Suche nach Antworten führt uns zu unserem inneren Kern. Komplexität allerorten: Der äußere Wandel - technologisch, gesellschaftspolitisch, wirtschaftlich - schreitet rasend schnell voran. Organisationen sind entweder deren Treiber oder hecheln diesem hinterher - oder beides. Die Automobilindustrie schraubt die Anzahl der neuen Modelle jedes Jahr weiter in die Höhe, neue Handymodelle sind nach drei Monaten veraltet. Die Flut an Informationen und die Geschwindigkeit, die Anzahl von Entscheidungen setzen Manager massiv unter Stress.

Der Versuch, Komplexität mit Komplexität zu managen, birgt allerdings die Gefahr, sich vor lauter Anpassungsbemühungen, Innovationen und Flexibilität in eine massive Überforderung zu begeben. Verwirrung und Kraftlosigkeit können ein unattraktives Ergebnis dieser Bemühungen zeitigen. Herkömmliche Planungs- und Managementansätze (Fünfjahrespläne, Mikrobudgetierungsprozesse) sind allerdings auch nicht besonders tauglich - sie erfordern nämlich ein gewisses Maß an Stabilität und Vorhersehbarkeit von äußeren Entwicklungen.

Komplexität ist aber möglicherweise nichts, was man managen könnte, denn sie ist keine konkrete Sache, sondern vielmehr der Kontext, in dem wir uns bewegen. Woher also kommen die Antworten, Entscheidungen, was gibt Stabilität? Der Blick nach außen - zu Konkurrenten, Zukunftsprognosen, Experten- hilft nur bedingt.

Nach Jahren in der Beratung und Erforschung von Organisation und Management kristallisiert sich für mich die folgende Erkenntnis immer deutlicher heraus: Stabilität in Komplexität muss vorwiegend aus uns selbst heraus entstehen - wir selbst sind die Quelle der Klarheit. Wer wir selber sind und zu sein wählen ist jener Bereich, auf den wir direkten Einfluss haben. Die kraftvollsten Orientierungspunkte liegen in der eigenen Identität: Klarheit über den eigenen Sinn und Zweck, darüber, was uns als Personen und Organisationen wichtig ist, und eine Profilierung, wofür wir als Unternehmen und verantwortlicher Manager stehen und wofür nicht.

Sich diesen Fragen zu stellen erfordert ein großes Maß an Reflexionsfähigkeit, Offenheit, Aufmerksamkeit, Mut und Disziplin - und es ist ein kontinuierlicher Prozess, der bewusst zu führen ist. Er ist aber aus meiner Sicht sowohl notwendig als auch lohnend, um in einer komplexen Welt erfolgreich zu agieren. Es ist wunderbar zu erleben, wie viel Kraft Organisationen durch die Klärung und Schärfung von Sinn- und Identitätsfragen schöpfen. In der Folge wird auch deutlich, was auf der konkreten inhaltlichen Ebene zu tun ist. Die Klarheit über den inneren Kern ist die Voraussetzung, Strategien und Visionen sinnvoll zu formulieren und kraftvoll zu nutzen. Sie erlaubt, adäquate Antworten im Hier und Jetzt finden. Dies scheint mir eine angemessene Form zu sein, Komplexität nicht nur zu "managen", sondern vielmehr als Quelle von Inspiration und Innovation zu nutzen. (Julia Culen, DER STANDARD, 21./22.9.2013)