Die Mehrzahl derer, die heute Verantwortung in Organisationen tragen, kommt aus einer Zeit der Gewissheit und Machbarkeit. Alles schien möglich - solange man nur gezielt und systematisch handelte, Projekte vollständig durchplante und konsequent umsetzte. Doch wurden in den vergangenen Jahrzehnten die Risse im Gefüge eines linearen Ursache-Wirkungs-Prinzips größer. Trotz ausgeklügelter analytischer Methoden und minutiöser Pläne scheiterten komplexe Projekte und Initiativen reihenweise. Was noch bedenklicher ist: Vielfach wurde das Gegenteil von dem erzielt, was beabsichtigt war. Das Phänomen der unbeabsichtigten Folgen macht natürlich nicht beim Unternehmen halt. So ist es bei Implementierung der Energiewende der deutschen Bundesregierung gelungen, den CO2-Ausstoß im vergangenen Jahr zu erhöhen ... Soziale Systeme und Ökosysteme gehören zu den komplexesten Systemen - kein Wunder also, dass auf diesem Gebiet viel danebengeht, wenn man einfache Heilsformeln anzuwenden versucht.

Wenn Manager in ihrer Rolle als "Macher" somit arge Schrammen abbekommen haben - was bleibt? Wie können und sollen Führungskräfte mit Komplexität umgehen? Zunächst einmal muss man alle Hoffnungen auf Patentrezepte zerstreuen: Komplexität kann nicht im traditionellen Sinn gemanagt werden. Führungsqualität für Komplexität heißt: andere in die Lage versetzen, mit Komplexität umzugehen und diese zu nutzen. Traditionelle rigide Organisationen mit ausgeklügelten Prozessmanagement und tayloristischen Arbeitsweisen tun sich damit schwer. Peter Senge hat bereits vor 25 Jahren von der lernenden Organisation gesprochen. Die wachsende Komplexität zwingt uns nunmehr, die Realisierung dieses Konzepts neu ins Auge zu fassen.

Es gilt dabei, Lernschleifen auf allen Ebenen der Organisation zu verankern. Erfahrungslernen aus Feldversuchen, aus Experimenten und selbst aus Fehlern muss Bestandteil der neuen Firmenkultur werden. Autonomie und Selbstorganisation dort, wo es aufgrund der externen Komplexität erforderlich ist, sollte ebenfalls ins Repertoire gehören. Rasches Adaptieren an sich ändernde Bedingungen ist essenziell - genügt aber nicht: Ständige Innovation wird zum Differenzierungsfaktor - mit neuen offenen und kokreativen Verfahren. Risikomanagement mit modularen bzw. lose gekoppelten Systemen muss weit über das vielfach stumpfe und undifferenzierte "totale Vorsichtsprinzip" hinausgedacht werden.

Erstmalig verfügen wir über Werkzeuge, die uns bei der Verarbeitung und Interpretation ungeheurer Datenmengen helfen können. Die menschlichen Komponenten im Entscheidungsprozess sind aber wichtiger denn je: Urteilsvermögen, Werthaltungen, Kreativität, Intuition und integratives Wissen. Stephen Hawking hat unsere Zeit als "das Jahrhundert der Komplexität" bezeichnet - Entscheidungsträger in Wirtschaft und Gesellschaft sind gefordert, Komplexität als neue Weltsicht zu begreifen und letztlich als Chance für ein neues Denken und Handeln. (Richard Straub, DER STANDARD, 7./8.9.2013)