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Blockieren, Schachern, Packeln, Alt aussehen, Brüskieren, Junktimieren, Erodieren: Die sieben Todsünden der großen Koalition.

Foto: apa/Gindl

Viele verteufeln sie, keiner liebt sie: Nach insgesamt vierzig gemeinsamen Regierungsjahren stecken SPÖ und ÖVP in einer Imagekrise. Das Sündenregister der großen Koalition – und warum man sie trotz allem mögen kann.

1. Blockieren

Vierzig gemeinsame Regierungsjahre in der Zweiten Republik haben daran nichts geändert: Politisch wollen SPÖ und ÖVP in entgegengesetzte Richtungen. Das führt zwar nicht zu generellem Stillstand, sehr wohl aber zu Blockaden in ideologisch besetzten Fahnenfragen. Die SPÖ will Gesamt- und Ganztagsschule, eine stabile Steuerquote und einen starken Sozialstaat, die ÖVP Gymnasium und Eigenverantwortung, massive Steuersenkungen und eine von der öffentlichen Hand entfesselte Wirtschaft. So trifft man sich in der Mitte: bei lauen Kompromissen, die - siehe Bildungsreform - nichts wirklich lösen.

Einen "Verstärkereffekt" schreibt Franz Fiedler, der viele rot-schwarze Jahre als Rechnungshofpräsident begleitet hat, den dominanten Vorfeldorganisationen - Kammern, Gewerkschaften - zu. Auf beiden Seiten gelte es so viele Partikularinteressen zu befriedigen, dass gut gemeinte Reformen verwässert würden.

Allen Kapriolen des damaligen Koalitionspartners zum Trotz schwelgen ÖVPler deshalb immer noch in schwarz-blauer Nostalgie. Viele Sozialdemokraten sehen hingegen in den Grünen den logischen Partner - und, wenn der Rechtsextremismus nicht wäre, sogar im vermeintlichen Hauptfeind. "Die Schnittmengen mit der FPÖ sind größer als mit der ÖVP", sagt Nikolaus Kowall von der linksintellektuellen Sektion 8 und denkt an eine rote Minderheitsregierung, die im Parlament auch mit der FPÖ Projekte durchzieht.

2. Schachern

Natürlich war alles schon einmal ärger: SPÖ und ÖVP teilen die Republik heute bei weitem nicht mehr so flächendeckend unter ihren Parteigängern auf, wie sie das einst im Versuch, die alten Bürgerkriegsgräben zuzuschütten, taten. Schließlich haben Privatisierungen große Besetzungsfelder weggefressen.

Dennoch ist der Proporz - ein Posten in Rot, ein Posten in Schwarz - nicht ausgestorben. Von staatsnahen Unternehmen wie der Asfinag über Länderdomänen wie den Flughafen bis zu demokratischen Institutionen wie dem Verfassungsgerichtshof: Überall sitzen Amtsträger auf Tickets, die hinter den Kulissen von einer der beiden Regierungsparteien ausgestellt wurden. Bürger der Republik werden quasi von klein auf in die Farbenlehre eingeführt. Immer noch gibt es Schulen, die rot oder schwarz besetzt werden.

Das heißt nicht, dass jeder, der sich zu einem politischen Lager bekennt, automatisch ein unfähiger Befehlsempfänger ist. Auch Besitzer eines Parteibuchs sollen etwas werden dürfen - wenn das Gleiche für jene Kandidaten gilt, die keines in der Tasche haben.

Dass der Eindruck verheerend ist, hat sich auch in SPÖ und ÖVP herumgesprochen. Manche Besetzungen, etwa jene des neuen Bundesverwaltungsgerichts, laufen nach ausgeklügelten "objektivierten" Verfahren ab, doch Zweifel bleiben: Zuständig waren letztlich ein Roter und ein Schwarzer.

3. Packeln

Große Parlamentarier sind Rote und Schwarze nie gewesen: Stark wiegt die sozialpartnerschaftliche Tradition, gemäß der Politik eher hinter geschlossenen Polstertüren als auf offener Bühne ausgehandelt wird. Die Regierungsriege versteht unter funktionierendem Parlamentarismus in der Regel eine gut geölte Abstimmungsmaschinerie, viele Abgeordnete fügen sich dem Diktat von oben. Ihr Einfluss ist auf Ausnahmen wie die Demokratiereform beschränkt.

Die Opposition hat gute Gründe, sich regelmäßig überfahren zu fühlen. Vor drei Jahren haben die Koalitionsparteien das Versprechen abgegeben, dass künftig eine Minderheit im Parlament Untersuchungsausschüsse einberufen darf - eingelöst ist es bis heute nicht. Dafür hauten sich SPÖ und ÖVP auf ein Packl, um den jüngsten Versuch vorzeitig zu beenden: Den U-Ausschuss zum Generalthema Korruption drehten sie ab, als die Inseratenaffäre des roten Kanzlers an die Reihe kam.

Dabei sieht der Politikwissenschafter Anton Pelinka gerade in der Wiederbelebung des Parlaments die Chance, "eine neue Dynamik in die Politik zu bringen". Abgesehen von Budget und Misstrauensanträgen sollten Rot und Schwarz die Größe haben, einen koalitionsfreien Raum zuzulassen - und damit auf ein Veto verzichten, wenn der Partner mit der Opposition im Nationalrat einmal etwas durchbringen könnte.

4. Alt aussehen

Das graumelierte Haar rechts gescheitelt, dunkle Anzüge und womöglich noch eine ähnliche Krawatte: Woche für Woche verkünden die Regierungsspitzen Werner Faymann und Michael Spindelegger nach dem Ministerrat ihre Wohltaten für das Land - und bringen auch mit ihren Worten wenig Farbe ins Spiel.

Wen diese Selbstdarstellung anspricht? Vor allem Senioren. Die jüngste Nationalratswahl zeigt: Menschen über 60 stellen sowohl bei SPÖ als auch ÖVP die stärkste Wählergruppe.

Früher rückten die Jungen automatisch nach, weil viele Kinder so wählten wie die Eltern. Doch seit die alten Lagerbindungen zerbröseln, leiden die Traditionsparteien SPÖ und ÖVP mehr noch als die Konkurrenz an Nachwuchsproblemen. Alte Stimmen sind zwar nicht weniger wert als junge - doch frischen Wind für innovative Ideen facht eine solche Struktur nicht an.

Erneuerung von unten gäbe es schon, erläutert der SPÖ-Aktivist Niki Kowall anhand seiner eigenen Partei, aber nur dank engagierter Einzelinitiativen. "Eine generalstabsmäßig geplante Agenda" zur Öffnung der Partei für neue Wählergruppen existiere nicht, kritisiert er und will das Problem nicht auf die Jugendfrage beschränkt wissen: "Wo ist der systematische Austausch mit den NGOs, wo ist die Jugo-Community in der Partei? Das wäre eine klassische SPÖ-Klientel."

5. Brüskieren

Mühsame Beziehungen führen die Wähler selber, da wollen sie auf der politischen Bühne nicht auch noch Rosenkriege sehen. Genau dieses Programm bieten aber oft Rot und Schwarz, nur dass eben die Scheidung ausbleibt. "Eine glückliche Ehe ist das nicht", sagt der rote Abgeordnete Christoph Matznetter und nennt als Kitt wahlarithmetischen Zwang statt Liebe.

Abgesehen von den ideologischen Gräben (Sünde 1): Animositäten, Demütigungen und verletzte Eitelkeiten hängen der Koalition aus den vielen gemeinsamen Jahren nach. "Man hat sich gehasst", erinnert sich Ex-SP-Mandatar Josef Broukal ans rot-schwarze Comeback vor sieben Jahren: "Die ÖVP meinte, wir hätten ihr Platz 1 gestohlen, während wir uns um die wichtigen Ministerien geprellt fühlten." Broukal hat nicht den Eindruck, dass die Missgunst verflogen ist, wenn etwa die schwarze Innenministerin den roten Regierungschef "Lügenkanzler" nennt: "So etwas sagt ja nicht einmal der Strache."

Ob gegen Lehrergewerkschaft oder Landeshauptleute: Oft ziehen SPÖ und ÖVP nicht an einem Strang, sondern fallen einander mediengerecht in den Rücken, um parteipolitisch zu punkten - Regierungsimage beim Teufel. Dabei, sagt der Politologe Peter Filzmaier, lerne man in jedem Marketingseminar: "Schütze die eigene Marke!" Lösungsansatz: ein gemeinsamer Regierungssprecher.

6. Junktimieren

Bekommen die Roten etwas, müssen auch die Schwarzen etwas kriegen - und umgekehrt: So sehen die unseligen Tauschhändel zwischen den Koalitionspartnern oft aus. Aktuelles Beispiel gefällig? Seit die SPÖ Anspruch auf den nächsten EU-Kommissar angemeldet hat, den bisher stets die ÖVP stellte, drängen die Bürgerlichen darauf, dass der nächste ORF-General von ihnen bestimmt werden darf. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, erklären beide freilich nicht.

In ihre Junktims ziehe die Koalition mitunter auch die Opposition hinein, sobald sie im Parlament eine Zweidrittelmehrheit benötige, beklagt der Grüne Dieter Brosz. So erzwangen SPÖ und ÖVP mit ihrem Wahlrechtspaket, dass die Grünen, denen nur an der Senkung des Wahlalters und Erleichterungen zur Briefwahl gelegen war, auch die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre mit absegnen mussten.

7. Erodieren

Die Sünden der Koalition sind die Stärke der FPÖ: Für diese These sprechen unzählige Wahlergebnisse. Was Jörg Haider in den Neunzigern enorme Zuwächse bescherte, führt sein Nachfolger Heinz-Christian Strache trotz zwischenzeitlicher Einbrüche erfolgreich fort. In Hintergrundgesprächen beklagen rote wie schwarze Kader seit Jahrzehnten, dass sie gegenüber der blauen Hetze gegen Ausländer, Brüssel & Co machtlos seien.

Der Politologe Peter Filzmaier meint, dass SPÖ und ÖVP auf die Wutthemen stets zu spät mit "Versachlichung" reagiert hätten. Erst 2011 einigte man sich auf ein Integrationsstaatssekretariat, um tatsächliche wie gefühlte Probleme rund um die Zuwanderung anzugehen. Und was die ÖVP aktuell außer Acht lässt: Ihr wichtiges Asset, der proeuropäische Kurs, verkommt zur Farce, wenn sie jetzt so tut, als könnte sie mit den EU-Gegnern Strache und Stronach einen Pakt aushandeln.

... und was trotzdem für sie spricht

Fragen Sie ausländische Spitzenpolitiker: Die loben regelmäßig die Performance der österreichischen Regierung - zuletzt Spaniens Premier Manuel Rajoy. In der Krise, die Österreich mit der EU-weit niedrigsten Arbeitslosigkeit durchtauchte, hat ein altes Argument neues Gewicht bekommen: Große Herausforderungen bedürfen einer großen Koalition. Nur in dieser Konstellation läuft die Sozialpartnerschaft, die Konflikte zwischen Arbeitgebern und -nehmern von der Straße auf den grünen Tisch holt, rund - und die rot-schwarze Gemächlichkeit kann man auch als angemessenen Preis für Stabilität sehen. Letztlich sind es aber die Wähler, die eine Fortsetzung legitimieren: Ihr Votum lässt kaum andere Möglichkeiten offen. (Gerald John und Nina Weißensteiner, DER STANDARD, 4.10.2013)