Der Irrtum zeigt sich spätestens dann, wenn Körper, Geist und Seele nicht mehr so richtig mitspielen wollen. Wenn es trotz besten Wissens und Könnens immer schwerer fällt, gut zu sein und noch ein wenig besser zu werden. Wenn der gesamte Organismus auf irritierende Weise sukzessive zu streiken beginnt. Dann, mal langsamer, mal rascher, beginnt es zu dämmern: Irgendwie muss Leistungsfähigkeit mit mehr zu tun haben als mit fachlicher Qualität und "handwerklichem" Know-how. Irgendwie muss da auch noch der ganz elementare persönliche Pflegezustand eine Rolle spielen.

Kraftstoff nachfüllen

Und mit diesem Pflegezustand ist es wie mit vielen anderen Wirkungszusammenhängen: Wer viel fordert, muss auch viel geben. Wer sich nur Tag für Tag munter aus dem eigenen Kräftereservoir bedient, ohne Kraftstoff nachzufüllen, kommt nur höchst selten um das missliche Erlebnis herum, dass es mit dem beschwingten Vortrieb nicht mehr so richtig klappen will. Und auch mit anderen für selbstverständlich gehaltenen Fähigkeiten nicht.

Dabei sind Körper, Geist und Seele in ihrem Aufbegehren noch recht gnädig. Bevor sie in Streik treten, lassen sie sich nicht nur einiges bieten, sie machen auch auf ihre abnehmende Bereitschaft, mitzuspielen, aufmerksam und zeigen an, wann es wohl nun doch mal an der Zeit wäre, vom Gas zu gehen und Anspannung und Entspannung wieder ein wenig auszutarieren. Zu stabiler, belastbarer Leistungsfähigkeit gehört nun einmal, auch der eigenen Selbstaufmerksamkeit die Reverenz zu erweisen.

Wenn alles zu nerven beginnt

Zu lernen, die ansteigende Erschöpfung signalisierenden Warnzeichen wahrzunehmen, ist nicht mit hypochondrischer Selbstbespiegelung gleichzusetzen. Wohlbefinden ist kein stabiler Gleichgewichtszustand, eher schon gleicht es einer Sinuskurve. Es schwankt im Zeitverlauf. Das gilt es zu bedenken. Doch verstetigen sich Ermüdungsgefühle, Mumm- und Mutlosigkeit, wird das Denken und Reagieren zäher, nistet sich das Gefühl ein, eigentlich sei einem alles egal, macht rasche Erregbar-, Reiz- und Empfindsamkeit gelasseneres Reagieren schwer, treibt jedes Fliegensummen auf die Palme und gehen einem alle im Handumdrehen auf die Nerven, dann ist Gefahr im Verzug.

All das sind - eigentlich - unverkennbare Fingerzeige darauf: Der Spannungsbogen ist überdehnt. Die Rücksichtslosigkeit im Umgang mit sich selber verlässt den vertretbaren Bereich. Ihre Botschaft lautet: Mensch, sorge für Entlastung, überprüfe dein Verhalten, deine Lebensführung! In diesem Zustand ist die Ampel sozusagen von Grün auf Gelb gesprungen. Rot, die von Körper, Geist und Seele "dank" tiefer Erschöpfung erzwungene Auszeit, ist nun nicht mehr weit. Wird Gelb nicht beachtet, droht der Crash. Ignorierte Überspannungszeichen münden gnadenlos in lähmende Abgeschlagenheit und schließlich Apathie, ob sie nun Burn-out oder Depression genannt wird.

"Last-Minute-Verhalten"

Spätestens bei diesem Stand der Dinge aufzuwachen und etwas rücksichtsvoller im Umgang mit sich selber zu werden ist zwar ein typisches "Last-Minute-Verhalten", aber allemal noch besser, als voll vor die Wand zu laufen und sich hinterher nur mühselig, wenn überhaupt, wieder aufzupäppeln. Spät ist nicht immer zu spät, kann aber schnell dahin umschlagen, wenn die einschlägigen Warnzeichen souverän missachtet werden. Das Gute am Schlechten ist: Der vielfach als plötzlich empfundene Umschwung in Leistungslust und Wohlbefinden ist ein schleichender, ein sich allmählich aufbauender Prozess.

Mit ein wenig Selbstaufmerksamkeit ist ausreichend Zeit gegeben, nicht nur um das sich anbahnende Unheil am Horizont heraufziehen zu sehen, sondern dem auch gegenzusteuern. Zumal der Organismus keineswegs geizig in Art und Umfang damit ist, auf den Kummer, der ihm bereitet wird und den er zum Selbstschutz irgendwann dann auch bereiten muss, aufmerksam zu machen.

Gestörte Spannungsbalance

Unmittelbar körperliche Anzeichen des Missverhältnisses von Anspannung und Entspannung, der gestörten Spannungsbalance also, sind Muskelverhärtungen und -verspannungen, die viel beklagten Nacken-, Schulter und Rückenschmerzen. Auch hoher Blutdruck, Schlaf- und Verdauungsprobleme, übermäßiges oder nächtliches Schwitzen, sich bei Nachprüfung als Herzneurose entpuppende Herzschmerzen, Lieb- und Lustlosigkeit in der Paarbeziehung sind, wenn sie anhalten, deutliche Warnzeichen.

Nicht minder deutlich fallen die seelischen Fingerzeige aus. Das anhaltende und zunehmende Gefühl, sich überfordert, hilflos und der Situation ausgeliefert und sich inmitten der Menschen einsam und verloren zu fühlen, ist eine ganz schrille Alarmglocke. Deren Intensität wird noch durch anhaltende innere Unruhe, emotionale Unausgeglichenheit und Gereiztheit, direkte Versagens- und Zukunftsängste, intensives Schwarzsehen und den sozialen Rückzug verstärkt. Bekannt- und Freundschaften, Hobbys werden nicht mehr gepflegt.

Gedanken von Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit

Mental macht das Abgleiten in die destruktive Überspannung unübersehbar mit Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen auf sich aufmerksam. Gewöhnlich gesellen sich dazu noch ständig im Kopf kreisende Gedanken von Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit. Der Grübelmotor läuft auf Hochtouren. Und die eskalierende negative Bewertung der Arbeit ("Alles Mist!"), der Kolleginnen und Kollegen ("Diese Idioten!") und des Lebens überhaupt ("Elender Quatsch!"). Dazu wächst die Menge an Unerledigtem, nehmen die Ausfallzeiten am Arbeitsplatz ebenso zu wie die stressbedingten Unfälle.

Doch die menschliche Blindheit in eigener Sache ist mitunter erstaunlich. Als ob der Organismus das wüsste, hält er noch weitere eindeutige Wachrüttler bereit: das unkontrollierte Essen, vor allem auch nebenbei, den zunehmend ungezügelten Griff zu Alkohol, den berühmt-berüchtigten Entspannungsschluck, Tabak, (Kopf-)Schmerztabletten und aufputschende und beruhigende Medikamente. Oder in neuerer Zeit den unreflektierten Konsum der schwungvoll in Mode kommenden Neuro-Enhancer, der Drogen zum leistungssteigernden Gehirntuning. Nur kritische Selbstaufmerksamkeit, Hand in Hand mit mehr Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst, kann vor dem destruktiven Ende der Geschichte schützen. Kommt es doch darauf an, die das körperlich-geistig-seelische Wohlbefinden unterminierenden Denk- wie Verhaltensweisen und die sich daraus ergebenden destruktiven Routinen zu entlarven. Denn sie vor allem sorgen dafür, immer tiefer in dem Sumpf der Selbstaufzehrung zu versinken. Also gilt es, zum Kundschafter in eigener Sache zu werden.

Selbstcheck und -kontrolle

Und eine Bestandsaufnahme zu machen: Was esse ich? Was sich gerade anbietet, wonach mein Körper giert, was alle anderen in sich hineinstopfen? Oder was mir merklich wohltut und erfahrungsgemäß gut bekommt? Wie esse ich? Eilig, sozusagen im Vorbeigehen? Oder nehme ich mir Zeit, esse in Ruhe und konzentriere mich auf meine Mahlzeit?

Wie arbeite ich? Überlegt, systematisch, strukturiert, planvoll? Unterscheide ich wichtig und eilig? Oder steuert mich der Moment, das Momentane, der Zuruf im Vorbeigehen? Flüchte ich in Nebensächliches oder Nachrangiges? Stapelt sich Unerledigtes?

Wie gestalte ich meine Freizeit? In Fortsetzung der beruflichen Getriebenheit, Hetze und Fremdsteuerung? Oder setze ich dazu ausgleichende, selbstgesteuerte, regenerierende Gegengewichte? Nehme ich mir Raum und Zeit für ruhiges Nachdenken, Besinnung, Kontemplation, den eigenen Horizont erweiternden oder mich selbst auch einmal hinterfragenden Gedankenaustausch?

Wie stellen sich meine Beziehungen zu anderen dar? Hält sich Geben und Nehmen die Balance? Oder bin ich stets Geber und die anderen die selbstverständlichen Nehmer? Kommt mir auch mal ein freundliches, aber bestimmtes "Nein!" über die Lippen? Wie stehe ich zu zeitgeistigen Vorstellungen? Lebe ich als Kind des Zeitgeistes in der Angst, irgendetwas zu versäumen, brav im Mainstream des allgemein Angesagten trottend, nichts auslassend, überall dabei seiend? Oder gestalte und lebe ich mein eigenes, individuelles Leben? (Hartmut Volk, DER STANDARD, 12./13.10.2013)