Das Friesenberghaus in den Zillertaler Alpen, heute eine Hütte des deutschen Alpenvereins: Im Rahmen des Projekts "Freiwillige Teilnahme" fertige Tal Adler dieses Foto einer "Spaltung".

Foto: Tal Adler

Wien - "Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen", sagte Gottfried Keller. Davon hielt Walter Benjamin nichts; das "wahre Bild der Vergangenheit" sei nur ein vorbeihuschendes. Auch Historikerin Karin Schneider bezieht sich auf Benjamin, wenn sie den Begriff der Zeitzeugenschaft als problematisch beschreibt. Er gehe von einer authentischen Rekonstruktion von Geschichte aus. Die Erinnerung von Zeitzeugen baut jedoch nur auf jenen Bildern auf, die in Erinnerung geblieben sind.

Oral History werde vielmehr dort interessant, wo man beginne, sich mit der eigenen Erinnerungsgeschichte zu beschäftigen und nicht Zeitzeugen "als schlechter funktionierendes Archiv" verstehe. Interessant sei die Perspektive, die in der Gegenwart auf Historie geworfen werde: "Geschichte ist etwas, was hier und heute passiert. Sie ist eine Konstruktion."

Als ein Brückenschlagen zwischen Gegenwart und Vergangenheit versteht sich das partizipatorische Projekt Freiwillige Teilnahme, ein "Amalgam aus Kunst und Soziologie", das sich damit beschäftigt, wie Gruppen der Zivilgesellschaft - zum Beispiel Kirchengemeinden, Alpinisten, Sportler - sich mit der eigenen Geschichte beschäftigen.

Gemeinsam mit dem in Israel geborenen Künstler und Fotografen Tal Adler besuchte Schneider österreichische Vereine, die zumindest seit 1938 existieren, und hinterfragte deren Erinnerungskultur. Nicht immer war erst ihr Besuch Anstoß dafür, den Umgang mit dem eigenen geschichtlichen Erbe zu reflektieren; offensichtlich, so die Initiatoren, sei nun die richtige Zeit für kritische Rückschauen.

"Keine Zeit", lautete die Antwort auf ihre Anfrage in der Pfarre St. Josef im 18. Bezirk, gegründet im 19. Jahrhundert von Joseph Deckert, einem glühenden Antisemiten. Seine Predigten mit wüstester Hetze publizierte dieser in kleinen Heften. Als man diese verbot, verteilte er die Broschüren eigenhändig vor anderen Kirchen. Hinter der Kirche hat er heute ein Ehrengrab, und lange waren auch der Platz und die Bim-Station dort nach ihm benannt. Im Zuge einer Protestwelle in den 1980er-Jahren wurde das Straßenschild über Nacht abmontiert und vom Pfarrer an die Stadt zurückgeschickt. Der Platz sei privat und müsse daher keine offizielle Bezeichnung tragen. Der Hirte entschuldigte diese Lösung in einem Brief an seine Gemeinde, man könne die Sache so am besten ruhen lassen.

Keine Zeit? Schneider und Adler dachten, ihre Abfuhr habe neuerlich mit dem Unwillen zu ehrlicher Auseinandersetzung zu tun und hakten nach. Die Terminnöte entsprachen aber der Realität, und so wurde aus dem Missverständnis doch noch eine "Love-Story": Gemeinsam mit dem Pfarrer und Gemeindemitgliedern gründete man eine Studiengruppe und traf sich ein Jahr lang regelmäßig. Das Gruppenfoto, das alle Episoden von Freiwillige Teilnahme abschließt, zeigt sie im Schiff der Kirche sitzen - eine Inszenierung, die auch wegen der vorherrschenden Lichtstimmung an niederländische Gruppenporträts des 17. Jahrhunderts - an Werke Adriaen Backers oder Ferdinand Bols - erinnert.

Fotografische Genres wie Gruppenporträt oder Landschaft interessieren Adler bei diesem Projekt zusätzlich: So wirkt das Gruppenbild vor dem Friesenberghaus im Zillertal in seiner extremen Totale eher wie ein Gebirgsbild der 1920- oder 1930er-Jahre. Es war 1921, als der deutschnationale Österreicher Eduard Pichl, Vorsitzender der Sektion Austria im Alpenverein, gegen den Willen deutscher Sektionen den "Arierparagraphen" erzwang.

Alpenentzug als Drohung

Eine Minderheit setzte sich durch, weil sie mit der Abspaltung und dem "Entzug" der schönen österreichischen Alpen drohte. Im Falle der Spaltung hätte Pichl ebenfalls die Juden dafür verantwortlich gemacht. Adler realisierte als Foto nun das, was zur NS-Zeit niemals passiert ist: Er ist der erste Jude, der nun den Alpenverein spaltete. Symbolische Kulisse ist das Friesenberghaus, das einst der mehrheitlich jüdischen Sektion Donauland gehörte. Als die sich in den 1970ern auflöste, stiftete sie das Gebäude nicht etwa dem österreichischen Alpenverein. Und so weht nun auf 2498 Metern Höhe eine deutsche Flagge.

Eine Gruppe mit der sich Adler im Rahmen des Projekts unbedingt beschäftigen wollte war die der Rechtsprechenden: "Denn wenn man sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt, spielen Richter eine signifikante Rolle. Sie waren ein Arm dieser Maschinerie." Bei Friedrich Forsthuber, Präsident des Landesgerichts für Strafsachen, fand die Projektidee positive Resonanz. So kam das Projekt als Vor Gericht – ­Cases Reopened ans Landesgericht, wo Tal Adler nun acht Aufnahmen aus seinen Serien zeigt. Ergänzt wird die Präsentation durch Expertengespräche und Diskussionen zu den Themen der Aufnahmen. Darüberhinaus werden in Archivboxen auch die zu jedem Bild passenden Materialien aus dem Forschungsprojekt zur Verfügung gestellt. Es gehe aber nicht darum, nun über die im Rahmen der Ausstellung "geöffneten Fälle" zu urteilen. Es gäbe mehrere Wahrheiten, sagt Adler. Es gehe vielmehr um verschiedene Perspektiven, um verschiedene Narrative. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 17.10.2013)