Edmund Hillary hatte es leicht. Schließlich ist es einfach, Großes zu tun, wenn die Ein- und Erstmaligkeit des eigenen Tuns auch für den Laien auf den ersten Blick erkennbar ist. Mount Everest. Glühbirne. Transatlantikflug. Mondlandung: Wer da als erster "ich" schreien konnte, der brauchte nichts zu erklären. Konnte sich ewigen Ruhmes gewiss sein. Und zwar ohne eine Sekunde überlegen zu müssen, wie schwer es alle haben würden, die später kämen - und dennoch Erste sein wollten.

Es gibt sie aber noch, die wahren Abenteuer. Die echten Herausforderungen. Die nicht gesetzten Meilensteine. Die ungetanen Heldentaten. Man muss halt suchen. Fahnden. Und dann - wenn man das Thema, die Aufgabe, die Challenge gefunden hat - mitunter auch erklären. Schließlich liegt es in der Natur der Sache solcher ungelösten Aufgaben, dass sie nicht offensichtlich sind, nicht auf der Hand liegen. Sonst wäre ja schon Sir Hillary draufgekommen.

Und wäre vielleicht drei Stunden östlich der norwegischen Stadt Bergen in den Eidfjord gestiegen. Statt Tenzing Norgay und seinen Sherpa-Kollegen, wären dann vielleicht Daniel Arnold und die Eiskletter-Profis des Schweizer Mammut-Konzerns jene Helden, die sogar wir Kinder aus dem Flachland kennen.

Hätte. Wäre. Könnte: Die Welt ist, wie sie ist. Also kletterte Hillary auf den Everest - und ließ die nächtliche Lichtinszenierung der Wasserfälle des Eidfjordes anderen. Genauer: Thomas Senf.

Den hatte schließlich das Pittoreske, das Gewaltige, das Ehrfurchtgebietende der vereisten Wasserfälle bei Nacht schon lange gereizt. Schon bei Tag ist das Szenenbild, das Wind und Kälte da aus - allem Anschein nach - im freien Fall innehaltenden Wasserkaskaden erschaffen, mehr als bloß eindrucksvoll. Und verdammt schwer und gefährlich zu erklettern.

Nachts im Eis

Doch bei Nacht, wenn sich das Licht im Eis bricht und Wände und Wellen, Zapfen und Risse und das sickernde, tropfende und rinnende Wasser ein ganz eigentümliches Spiel aus Reflexionen, Spiegelungen, Verzerrungen zaubern, wird ersichtlich, wieso dieser Ort seit frühesten Tagen Sitz von Geistern und Dämonen ist. Zumindest in den Sagen und Mythen Norwegens.

Diese Szenerie nicht bloß bildlich einzufangen, sondern ihr auch sportlich die Ehre zu erweisen, war die Mission, zu der der in der Schweiz lebende deutsche Fotograf Thomas Senf im Jänner dieses Jahres auszog. Doch weil Bilder aus der Dunkelheit im Frühjahr und Sommer beim Publikum weit weniger Urängste ansprechen und Wirkung zeigen, als dann, wenn die Nächte länger werden, hält er den Herbst für die ideale Zeit, sie zu präsentieren.

Sicher, auch Senf weiß, dass Eiskletterer schon oft fotografiert worden sind. Auch in der Nacht. Doch was der Wahlschweizer in den norwegischen Eisriesen umsetzen wollte, war aufwändiger. Dramatischer. Schon im Fotostudio, mit klar berechenbaren Parametern und Gegebenheiten, hätten die Bilder spektakulär gewirkt. Doch Senf ist einer, der jedes Problem zur Chance zu erklärt: "Die Möglichkeiten, mit den Faktoren Licht, Zeit und Umgebung zu spielen, sind hier ebenso grenzenlos wie faszinierend."

Wer im Dunkeln filmen oder fotografieren will, muss mit Licht zeichnen. Oder malen. Also zog Senf den Schweizer Lichtmaler David Hediger zu Rate. Hediger war es, der dem Spiel aus Licht und sich bewegenden Schatten, der Verzerrungen und Reflexionen, der Mutation von Farben System zu geben versprach - und eine Frage aufwarf: Welche Quelle an welcher Stelle? Und vor allem: Wie kommt das Licht ins Eis?

Die Antwort kam mit den Models. Die würden nicht nur modeln - sondern auch Material montieren. Und platzieren. Die Models, das war das Eiskletter-Profiteam des Schweizer Outdoor-Gear-Giganten Mammut:  Fünf Schweizer (Ann-Aylin Sigg, Daniel Arnold, Stephan Siegrist, David Fasel und Ralf Weber), der Slowene Aljaz Anderle und die Deutsche Mirjam Limmer.

Das Material, das waren farbige Leuchtfackeln, Stirnlampen und jede Menge Scheinwerfer. Doch so ein "Lichttopf" lässt sich halt nicht einfach an einen Eiszapfen schrauben: Noch die "kälteste" Lampe emittierte Wärme, die irgendwann dann doch den eisigen "Ast," auf dem sie sitzt, "absägt". Und auch wenn vereiste Wasserfälle hart wie Stein sind: In ihnen fließt oft Wasser. Im Eis. Hinter dem Eis. Manchmal auch darüber. "Fackeln explodierten oder erloschen vorzeitig unter dem fließenden Wasser", erinnert sich der Fotograf.

Zentimeterarbeit

Obwohl die Material-Tüftler des Schweizer Bergsportartikelproduzenten sich schon vor der Expedition in die Dunkelheit spezielle Seilkonstruktionen und Befestigungen für Lampen und Fackeln hatten einfallen lassen. Und die Kletterer vor Ort über 500 Meter Kabel verlegten: Genau das Nicht-Vorhersehbare und der Umgang damit ist Teil des Reizes eines solchen Projektes. Eben weil es noch keiner in dieser Form zuvor getan hat.

"Was ich mir daheim vorgestellt hatte, ließ sich in der eisigen Realität der norwegischen Nächte viel schwieriger Umsetzen als erwartet", fasst Senf zusammen - auch, weil sich niemand mit einem Kompromiss zufrieden geben wollte. "Die Kletterer mussten immer wieder auf- und einsteigen. Meist ging es darum, eine Lampe nur wenige Zentimeter zu verrücken, um den Lichtkegel in der exakt richtigen Position zu haben."

Auch für die Profis war das ein ganz anderes Arbeiten als sonst, gibt Daniel Arnold bereitwillig zu. Der 29-jährige Schweizer Profi-Kletterer steht für Eis- und Speedrekorde an der Eiger Nordwand. "Dieses Mal stand ausnahmsweise nicht die sportliche Höchstleistung im Vordergrund, sondern die Vision eines Fotografen." Sich da ein- und auch unter zu ordnen, ist gerade für Sportler mit einem so starken Ego, wie es Spitzenbergsteiger brauchen, weit schwieriger, als das Klettern bei Nacht: "Wenn es dunkel wird, schalte ich einfach meine Stirnlampe ein und klettere weiter", beschreibt Arnold seinen "Alltag" im Eis.

Mit Senf war das anders. Da genoss plötzlich auch der Speed-Profi vor allem die Momente des Verweilens, des Staunens und des Schauens: "In einem Moment wirkte der Eisfall wie eine Tropfsteinhöhle. Dann wieder wie eine gotische Kathedrale. Es war gigantisch." (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 29.10.2013)

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Thomas Senf

Dani Arnold

Mammut

Foto: Mammut & Thomas Senf
Foto: Mammut & Thomas Senf
Foto: Mammut & Thomas Senf
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Foto: Mammut & Thomas Senf
Foto: Mammut & Thomas Senf
Foto: Mammut & Thomas Senf
Foto: Mammut & Thomas Senf

Der Fotograf Thomas Senf.

Foto: Mammut & Thomas Senf

Eines der Models und Speed-Rekordhalter Eiger-Nordwand: Dani Arnold.

Foto: Mammut & Thomas Senf