Der Mythos "Swiss made" wirkt heute stärker denn je.

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Die Wiege der Schweizer Uhrmacherkunst stand buchstäblich im Nirgendwo. Im rauen Juragebirge nämlich, am Rande der Zivilisation. Wo acht Monate Winter herrschen, konnte sie sich in Ruhe entwickeln. Für die ansässigen Bergbauern war die Uhrmacherei jedenfalls ein willkommenes Zubrot zur Landwirtschaft. Es war ein einsamer und stiller Beruf, der Geschicklichkeit und Können erfordert. Die über Jahrhunderte geübten und perfektionierten Fertigkeiten haben schließlich zur hohen Qualität der Schweizer Zeitmesser beigetragen und festigen deren hervorragenden Ruf bis in die Gegenwart. Nicht umsonst reiht sich in dieser Gegend ein berühmter Uhrenort - Biel, Neuchâtel, Le Locle, Fleurier - an den anderen. Der Schweiz-Tourismus bewirbt die Region kräftig als "Watch Valley". Hier wurde schließlich auch der Mythos "Swiss made" (mit)geprägt. Ein Mythos, der heute stärker wirkt denn je.

Von Frankreich ins calvinistische Genf

Aber wer hat's erfunden? Vermutlich nicht die Schweizer. Hugenottische Flüchtlinge aus Frankreich sollen das Handwerk der Uhrmacherei ins calvinistische Genf gebracht haben. Pierre LeCoultre etwa, Begründer des Uhrmacher-Clans, flieht 1560 vor den Hugenotten-Verfolgungen von Paris in die Einsamkeit des Jura. Seine Nachfahren gründen die Manufaktur, die heute weltbekannte Marke Jaeger-LeCoultre. Auch eine andere legendäre Gestalt, Abraham-Louis Breguet, dem die Uhrmacherei Ankerhemmung, automatischen Aufzug, zylindrische Spiralfeder und Tourbillon zu verdanken hat, war Franzose: Er schlug sich an der Seite des Jakobiners Marat durch die Revolutionswirren von Paris bis nach Neuchâtel durch.

Der Geist des Protestantismus, die gewinnbringende Einteilung des Zeitflusses nach den Methoden der Buchhaltung, so scheint es, prägt diese Branche bis heute. Tradition und große Namen - das ist die halbe Miete für die Schweizer Uhrenbranche. Kaum ein Hersteller, der sich nicht auf eine Gründungslegende und einen mythisch verklärten Gründungsvater beruft. Gepaart mit dem Label "Swiss made" als Qualitätssiegel ergibt sich ein bestens bewährtes Marketinginstrument. Darauf beruht der Nimbus des Statussymbols, der Zeitmessern aus der Schweiz anhaftet. Selbst deutsche Highend-Uhrenhersteller wie Chronoswiss tragen den Namen in der Marke.

"Einmaliges Know-how"

Für Carlos Rossilo, CEO der französischen Luxusuhrenmarke Bell & Ross, ist "Swiss made" Synonym für höchste uhrmacherische Qualität, weshalb die Firma in der Schweiz produzieren lässt. Schließlich sei dort ein einmaliges Know-how vorhanden. Er sieht auch eine Wechselwirkung zwischen nationalem und kommerziellem Label: "Ohne die großen Uhrenmarken und ihren Willen zu Qualität würde auch 'Swiss made' nicht so eine große Rolle spielen."

Oliver Kühschelm von der Uni Wien, der sich wissenschaftlich mit Konsum und Nation beschäftigt, bestätigt das: "Konsumgüter sind zu nationalen Symbolen geworden." Eine Entwicklung, die speziell in der exportorientierten Schweiz früh begonnen habe und die spätestens ab dem 19. Jahrhundert forciert wurde. So würde man eben qualitativ hochstehende Zeitmesser fast automatisch mit der Schweiz in Verbindung bringen.

Marx vermisst das Proletariat

Aus Dörfern wie Le Locle oder La Chaux-de-Fonds wurden prosperierende Städte. 1880 notierte Karl Marx, dass man das Örtchen La Chaux-de-Fonds als eine "einzige Uhrenmanufaktur betrachten" könne. Er sah eine "Unzahl an Teilarbeitern", die so gar nicht in das Bild des modernen Industrieproletariats passen wollte, wie der Zürcher Historiker Stefan Keller schreibt. Die fehlende Industrie führte im 19. Jahrhundert auch zur ersten von drei großen Krisen.

Denn die Amerikaner produzierten mit modernen Anlagen billiger und in genauso guter Qualität wie die Schweizer. Diese holten aber rasch auf: Von 1882 bis 1911 verzehnfacht sich die Anzahl der Fabriken, zu den Taschenuhren kommen Armbanduhren. Die zweite existenzielle Krise folgte nach dem Ersten Weltkrieg: Wichtige Absatzmärkte wie Deutschland oder Russland brachen weg. Die Krise dauerte bis in die 1930er-Jahre. Kaum betroffen war das oberste Luxussegment. So konnte beispielsweise Rolex mit der "Oyster" reüssieren.

Aufschwung

Ein neuer Aufschwung kam ab den 1940er-Jahren. Damals entstanden mit der Société Suisse pour l'Industrie Horlogère (SSIH) und der Allgemeinen Schweizerischen Uhrenindustrie AG (ASUAG) zwei große, staatlich geförderte Trusts, die etliche Firmen vereinten oder vertraglich zur Zusammenarbeit verpflichteten. Die Branche wurde mit einem "Uhrenstatut" als Kartell organisiert, dezentrale Strukturen kamen der Schweiz nach Kriegsende zugute. Es folgte eine Boomphase, die mit dem Aufkommen billiger amerikanischer und japanischer Quarzuhren in den 70er-Jahren endete.

Ein Libanese rettet die Branche

Diesmal dauerte die Rezession - befeuert durch Ölkrise und Verfall des Dollars - 15 Jahre. Die Hälfte der Firmen verschwand vom Markt, mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze ging verloren. SSIH (Omega, Tissot etc.) und ASUAG standen vor dem Konkurs. 1983 werden die beiden Firmen verschmolzen. Der Unternehmensberater Nicolas G. Hayek übernimmt das Ruder. Mit dem gebürtigen Libanesen beginnt das vorerst letzte Kapitel der Schweizer Uhrenerfolgsgeschichte. Hayek setzte auf eine Doppelstrategie: Er lancierte zum einen die billige, automatisch hergestellte Quarzuhr Swatch. "Zum anderen wurde der alte Mythos von der Schweizer Luxusuhr wiederbelebt", wie Keller schreibt.

Die Rechnung ging auf: Mehr als die Hälfte des Weltmarktes ist gegenwärtig, nach dem Wert gerechnet, "made in Switzerland". Die Horlogerie ist - nach Maschinenbau- und Pharmabranche - die wichtigste Industrie der Schweiz. Kein anderes Land der Welt hat eine auch nur annähernd vergleichbare Uhrenindustrie. Selbst Finanz- und Wirtschaftskrise konnten ihr de facto nichts anhaben. "'Swiss made' ist ein starkes Herkunftszeichen", resümiert Marketingforscher Wolfgang Mayerhofer von der WU Wien. Der Konsument könne darauf vertrauen, dass mit dieser Herkunftsbezeichnung ein hoher Qualitätsstandard einhergehe. "Man nennt dies Herkunftslandeffekt", erklärt der Experte. 

Wachen über Etikettenschwindel

Nahezu eifersüchtig wachen die Eidgenossen daher über dieses Label, fürchten sie doch Etikettenschwindel: Wo Schweiz draufsteht, soll auch Schweiz drin sein. So nahmen Bundesrat und Parlament im Juni 2013 die sogenannte Swissness-Vorlage an, die 2016 eine alte Verordnung von 1971 ablösen wird. Sie sieht unter anderem vor, dass bei Industrieprodukten wie Uhren mindestens 60 Prozent der Herstellungskosten in der Schweiz anfallen. Das bezieht sich auf sämtliche Bestandteile der Uhr. Während große Hersteller die Vorlage begrüßen, sehen sich jene bedroht, die für das untere Preissegment produzieren. Sie kaufen die Bestandteile auch im Ausland. Mehr "Swissness" werde die Produkte verteuern, sagen sie.

Österreichische Uhrenhersteller hingegen würden sich über eine ähnliche Vorlage freuen: "Es wäre schön, wenn es schärfere Bestimmungen für den Gebrauch von 'Made in Austria' gäbe", sagt Maria Habring von der Manufaktur Habring2 in Völkermarkt. Gemeinsam mit ihrem Mann Richard fertigt sie Luxuszeitmesser, die international große Anerkennung finden - auch in der Schweiz. Nur mit dem Mythos schaut's schlecht aus. Aber das ging in der Schweiz auch nicht von heute auf morgen. (Markus Böhm, Rondo, DER STANDARD, 31. 10. 2013)