Wienfluß von unten. Irgendwo im Bereich Karlsplatz.

Foto: standard / newald

Fünfhaus, Penzing, Meidling – Ich lebe nie weit weg vom Wienfluß, seit ich als Kind aus dem Balkan-Express am Südbahnhof gestiegen bin. Während ich erfolglos Slawistik studiere, benutze ich das Betonkorsett der Wien, um mit meinem geklauten Fahrrad einer italienischen Echt-Gut-Fahrrad-Marke zur Uni zu gelangen. Hier sind keine Autos. Nur Tauben, Enten und ein-zwei Joints unter Brücken. Und der Wienfluß.

An der Quelle

Ich bin zehn und erst seit einem Jahr in Österreich. Das Geschenk zum Jahrestag ist ein Mikroskop. Es ist aus Metall und schwer. Die Optik hat drei Wechselobjektive, das Zubehör besteht aus Glasplatten und Fixierflüssigkeit. Alles ruht in einem Holzkasten. Dieses Mikroskop ist ein Real-Deal, ein Original aus vergangenen Zeiten, das bereits damals nur noch als Filmrequisite dient.

Ich beschäftige mich ausgiebig mit dem Blick ins Kleinste. Als Fliegen, Mücken und Ameisen langweilig werden, beschließe ich echte Bakterien zu betrachten. Ich fahre mit der Stadtbahn nach Hütteldorf, gehe am Lainzer Tiergarten entlang, dann unter der Westeinfahrt zu den Staumauern, die die Wien zähmen. Hier, so denke ich, gibt´s genug Bakterien.

Doch alles, was da wimmelt sind nur Kaulquappen. Ich weiß damals nicht, dass die Wien nur im Ausnahmefall zur Kloake wird. Ich nehme trotzdem die Noch-nicht-Frösche mit. Beim Versuch sie zwischen den Glasplatten zu fixieren platzen sie und grauer Matsch ist alles, was ich anschließend im Okular sehe. Das Mikroskop verschwindet in einer Lade in der Wohnung meiner Mutter, in der es immer noch zusammen mit zermantschten Kaulquappen ruht.

Der Tauben Tod

Im Wiental ist man tiefer, als alle Keller der Häuser, deren nur die obersten Stockwerke und Dächer sichtbar sind. Der Verkehr auf den beiden Wienzeilen ist unsichtbar aber unüberhörbar, die Dunkelheit der längeren Übertunnelungen erzeugt Gänsehaut, der allgegenwärtige Lärm macht orientierungslos.

Trotzdem leben hier Enten, die alles nach Universum-Doku-Vorschrift machen. Kilometerweit fahre ich einer Ente hinterher, die vorgibt verletzt zu sein, aber wenige Meter bevor sie mein Vorderrad erreichen kann, munter hochfliegt. Ihre Brut wartet inzwischen weit hinter meinem Rücken auf ihre Rückkehr.

Hier sind auch Tauben. An einem warmen Frühlingstag sehe ich in der Ferne einen großen, kreisförmigen Teppich aus Taubenleibern. Alle flattern und alle versuchen zur Mitte zu gelangen. Als ich nahe genug bin, sehe ich, dass im Zentrum des Gefiederteppichs eine sterbende Taube liegt, die, weil sie nicht wegfliegen kann, von den anderen Tauben begattet wird. Bis sie ganz tot ist. Dann fliegen alle lebenden Tauben in den blauen Himmel. Unten, am Betongrund der Wien, flattern noch einige Federn der toten Taube, weil sie der Wind streichelt.

Freeze Motherfuckers!

Was solls! Wissend, dass Viele von einem gelungenen Geldraub träumen, gebe ich zu, einen geplant zu haben. Dabei lerne ich, dass dies nur dann eine gute Idee sein kann, wenn sie professionelle Verbrecher haben. Ich und einige meiner Freunde sind jedoch nur Studenten im ersten Abschnitt. Weswegen unser Verbrechen nie weiter als bis zum Planungsstadium kommt. Und bis zum Wienfluß.

Hier, so ahnt man, ist der Fluchtweg durch die Kanalisation zu Ende. Also bin ich einige Nächte lang mit einem meiner Komplizen im Kanal unter der Eichenstraße unterwegs. Wir haben auch Ausrüstung angeschafft. Brusthohe Gummihosen, Wasserdichte Jacken, Lampen und eine Polaroid-Kamera. Dass die Kloake uns zum Paradies führen soll, lernen wir aus der gleichnamigen Biographie von Albert Spaggiari. Er ist zwar ein Faschist, aber trotzdem unser Vorbild, weil er 1976 den legendären Bankraub von Nizza durchführt. Man gräbt einen Tunnel vom Kanal bis zur Bank. Im Tresorraum hinterlässt seine Gang ein Graffiti: "Keine Waffen, keine Gewalt, kein Hass!"

Wir wollen es Spaggiari nachmachen. Doch nach mehreren Ausflügen in die Kloake von Meidling geben wir auf. Zu eng, zu steil, zu weit. Wien ist nicht Nizza und wir nur Dilettanten.

Trauermarmor

Am Ende der Sechshauserstraße, gegenüber dem legendären Tivoli Kino, führt eine Treppe in den Wienfluß hinab. Weil ich in einem der letzten Häuser von Sechshaus wohne, ist das mein bevorzugter Einstieg mit geschultertem Fahrrad. Am Fuß dieser Treppe ist das Bett der Wien mit Grabsteinen gepflastert. Viele sind geborsten oder mit Mörtel zugeschmiert. Oft sehe ich nur Teile von Namen und Jahreszahlen. "Unser Burschi" so steht auf einem von ihnen, ist nur sechs Jahre alt geworden.

Erst habe ich den nicht ganz vorurteilsfreien Verdacht, dies seien jüdische Grabsteine, die von Nazis den Juden zum Hohn als Bepflasterung der Hilfskloake von Wien entfremdet sind. Später erfahre ich durch Recherche, dass es sich um Mangelexemplare der Wiener Steinmetze handelt. Weitere Recherche ergibt, dass es ein Proletariat gegeben haben soll, so lumpig, dass es in den Kanalüberläufen entlang der Wien nach Fett fischt, um es den Seifensiedern zu verkaufen. Dabei sollen auch öfter entsorgte Leichenteile im Netz landen. Und anschließend beim Seifensieder.

Ich erfahre, dass die Wien ein Stück zu Schanden gezähmter, wilder Natur ist. Früher mäandert sie durch Dörfer, die nun Stadtbezirke sind, überflutet sie auch regelmäßig und ertränkt sogar manchen  Anwohner. Deswegen hat jeder Bezirk zwischen dem Hütteldorfer Bahnhof und der Urania eine eigene Legende vom Männlein in der Wien, dass unvorsichtige anlockt und ertränkt.

Was ist "Renaturalisierung"?

Eh klar! Es ist das, was man heute am äußersten Oberlauf der Wien sieht. Unweit der Staumauern, die mir einst meine Bakterien verweigern, ist die Wien ein wenig "naturnah rückgebaut". Es gibt sogar Fische, die träge gegen die leichte Strömung treiben. Im späten Frühling, wenn keine Wolkenbrüche erwartbar sind, fahre ich mit unserem Sohn hierher. Er quietscht vor Vergnügen, jagt den "verwundeten" Enten hinterher und besudelt sich dabei ausgiebig mit dem Schlamm der Wien.

Die blöden Kaulquappen, die es hier mehr denn je gibt, stochert er mit einem Stock im Brackwasser auf und zermatscht sie danach mit seinen Stiefelchen. Am Abend wasche ich unter der Dusche den Wienfluß von unserem Sohn. Und erzähle ihm vom Männlein in der Wien. (Bogumil Balkansky, 30.10.2013, daStandard.at)