Zwanglose sexuelle Begegnungen im Gestrüpp: Alain Guiraudies "L'inconnu du lac" spart auch Explizites nicht aus.

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Alain Guiraudie (49) ist ein französischer Autor und Regisseur, er dreht seit 1990 Filme, die auch vielfach auf der Viennale gezeigt wurden.

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STANDARD: Es geht in Ihrem Film um Mord, um Sexualität, um Liebe - also um starke Emotionen. Aber Ihre Mise en Scène wirkt dem entgegen: Sie hat etwas sehr Nüchternes, Dokumentarisches.

Alain Guiraudie: Das stimmt, ich widme mich großen, komplexen Sujets, trotzdem hatte ich Lust, das auf einfache Art und Weise zu machen, dass man die Regie gar nicht spürt (was aber eine Riesenarbeit war). Wichtig war mir ebenfalls der Standpunkt der Distanz. Es geht in diesem Film sehr viel um Blicke, es geht darum, dass man angeschaut wird, wie man angeschaut wird, wie filmt man das Verhältnis zwischen Objektivität und Subjektivität?

STANDARD: Dafür haben Sie ein Kamerakonzept entwickelt?

Guiraudie: Ursprünglich sollte eine bewegliche Schulterkamera die Subjektive darstellen und eine sehr feste Kamera den Standpunkt des Regisseurs. Letztendlich habe ich mich nur für eine sehr fixe Kamera entschieden - damit wird der Zuschauer in eine Art Konfusion getrieben, dass er nie so genau weiß, wer schaut jetzt zu: Ist es der Protagonist, der auf einen anderen Protagonisten schaut - oder aber ist es der Regisseur? Mit dieser Zwiespältigkeit habe ich bewusst stark gearbeitet.

STANDARD: Konnten Sie das alles beim Dreh erreichen, oder haben Sie im Schneideraum Akzente gesetzt?

Guiraudie: Im Schnitt haben wir eher Dinge herausgenommen. Das war noch mal eine Arbeit, bei der ich auch die Schauspielführung verfeinert habe. Wir haben auch gewisse Löcher im Schnitt installiert, um das Geheimnisvolle stärker zu akzentuieren. Und manche Dinge sind wirklich erst im Schnitt entstanden, so die Architektur des Raumes. Dafür haben wir etwa Einstellungen, die im Drehbuch gar nicht so wichtig waren, verlängert - all diese Bilder, die man normalerweise als Schnittbilder macht, diese Aufnahmen vom See, von den Bäumen, das bekam plötzlich eine viel größere Dimension und dadurch fast ein fantastisches Element.

STANDARD: Der Verzicht auf Musik trägt ebenfalls zur Nüchternheit bei. War das eine frühe Entscheidung?

Guiraudie: Es gab im Drehbuch einmal Musik - solche, die natürlich entsteht: Am Ufer sollte ein Instrument gespielt werden, und aus einem Auto sollte Technomusik zu hören sein. Diese Musik hätte aber eher verschmutzend gewirkt, denn an diesem Ufer ist einfach niemand. Wir fanden dann eine Sinfonie aus natürlichen Tönen - des Wassers und des Windes oder auch von den ankommenden bzw. wegfahrenden Autos: Das war sehr viel schöner.

STANDARD: Eine Reihe von Szenen spielt in der Abenddämmerung. Wie haben Sie es hinbekommen, in der kurzen Zeit zu drehen?

Guiraudie: Auch da haben wir ohne künstliche Hilfsmittel gearbeitet, wir haben an jedem Drehtag ein bis zwei Szenen abends gedreht, in diesem Licht. Zwei Stunden, bevor wir anfingen, machten wir Proben, damit wir wirklich bereitstanden, um diese Zehn-Minuten-Zeitspanne optimal ausnutzen zu können.

STANDARD: Es gibt sexuell explizite Szenen. Haben Sie die Schauspieler von vornherein danach ausgewählt, dass sie bereit waren, das zu machen?

Guiraudie: Ich hatte mir schon vorgenommen, die ganz expliziten Sexszenen doubeln zu lassen. Aber trotzdem musste man den Schauspielern ja vermitteln, dass es sehr physische Szenen gab, in denen sie nackt waren, in denen es zu Körperkontakt und zu Kussszenen kommt. Als ich das zentrale Paar, Pierre und Christoph, gefunden hatte, habe ich sie gefragt, wie weit sie bereit sind zu gehen - ich wollte auch herausfinden, wie weit ich gehen wollte. Aber letztlich sind es doch die Schauspieler, die mir die Grenzen gesteckt haben. Das war schon Gegenstand vieler Diskussionen, es gab sogar die Überlegung, alles mit Sexprothesen zu machen.

STANDARD: Haben Sie einige der expliziten Szenen entfernt?

Guiraudie: Beim Dreh war es so, dass wir die Choreografie dieser Szenen vorgegeben haben und sie dann sehr schnell mit den Doubles gedreht haben. Ich wollte bei den Sexszenen nicht nur provozieren. Das war nicht der Punkt. Ich wollte nur, dass die Szenen gut miteinander verbunden waren, einerseits die Liebesszenen mit den Schauspielern, andererseits die "pornografischen" Vignetten. Man sollte eine Einheit spüren. Der Sex war schon sehr präsent, aber wir haben auch sehr viel wieder herausgenommen. Auch aus einem ethischen Standpunkt, was die Doubles betraf: Wir haben keine Penetrationsszenen ohne Kondome gedreht.

STANDARD: Das Thema Aids wird einmal angesprochen von dem Bärtigen, der lieber auf Sex verzichtet, als ihn ohne Kondome zu machen. Franck sucht die risikobereite Sexualität, nicht nur, was den Verzicht auf Kondome betrifft ...

Guiraudie: Ich habe Franck eher als eine romantische Figur konzipiert, als jemanden, der alles ausleben möchte, was mit seiner Lust und seiner Liebe zu tun hat, nicht unbedingt, um Risiken einzugehen - er gibt sich einfach seinen Gefühlen hin. Für mich war diese Szene insofern interessant, als der Bärtige eine sehr moderne Diskussion führt: Auf der einen Seite haben wir eine Form von Hyperhygiene, auf der anderen Seite etwas Frivoleres. Das andere ist einfach: Aids hat so viel verändert in den Liebesbeziehungen - trotzdem bin ich der Meinung, dass man nicht genug darüber im Kino spricht. Dies ist ein Film über die Liebe und den Tod, und Aids hat beides nun einmal ganz stark miteinander verbunden. Ich konnte also keinen Film drehen, ohne das Thema Aids zu erwähnen. (Frank Arnold, DER STANDARD, 2./3.11.2013)