Als in diesem Sommer die Details der allgegenwärtigen Abhör- und Überwachungsmaßnahmen in Telefonnetzen und dem Internet durch die US-amerikanische National Security Agency (NSA) ans Licht kamen, stiegen die Verkäufe von George Orwells klassischem Roman 1984 dramatisch an. Orwell beschreibt darin eine unterdrückerische Regierung, die ihre Bevölkerung beständig mit überall präsenten "Telescreens" überwacht. Die NSA-Überwachungsprogramme, heißt es in einem jüngst erschienenen Zeitungsartikel, "übertreffen das, was der Autor von 1984 sich vorzustellen imstande war, bei weitem".

In der Tat ist das, was wir bisher über das Ausmaß der NSA-Operationen erfahren haben, äußerst bestürzend. Wir wissen heute erstens, dass die NSA regelmäßig Telefonprotokolle von praktisch allen US-Telekomkunden sammelt. Zweitens wissen wir, dass die NSA jeglichen Internetverkehr überwacht, der über die US-Telekominfrastruktur läuft. Und drittens wissen wir, dass die NSA vorsätzlich kryptografische Standards geschwächt hat, um Verschlüsselungen besser umgehen zu können.

Im Wesentlichen heißt das, dass die US-Regierung die Bedeutung des Begriffs "angemessen" in der von der Bill of Right's verbotenen unangemessenen Überwachung über begründete Grenzen hinaus deutlich ausgedehnt hat. Und im Vergleich lässt die NSA die Orwell'sche Überwachungstechnologie tatsächlich einigermaßen primitiv aussehen.

NSA-Neusprech

Der Skandal deutet auch wegen eines anderen Aspektes auf Orwells Buch hin: Die Sprache, die in Oceania, dem fiktionalen Ort des Romanes, gesprochen wird, ist "Neusprech". Deren Grammatik basiert auf dem Englischen, aber das Vokabular wird scharf kontrolliert, um freie Gedanken zu begrenzen. Als NSA-Direktor James Clapper nach den Enthüllungen dieses Sommers noch einmal über eine seiner Zeugenaussagen zum Thema vor dem US-Kongress im Frühjahr befragt wurde, antwortete er so: "Ich habe auf die Fragen in einer Art und Weise geantwortet, von der ich annahm, sie sei die wahrheitsgetreueste oder zumindest die am wenigsten unaufrichtige." Es besteht kein Zweifel, dass Orwell "am wenigsten unaufrichtig" mit Freude ins Neusprechvokabular aufgenommen hätte.

Die NSA ist ein Nachrichtendienst, natürlich, und Staaten spionieren einander aus (auf eigenes Risiko). Aber die NSA darf keinesfalls als Dienst im eigenen Land tätig werden und noch dazu den US-Kongress anlügen!

Die Phrase "die am wenigsten unaufrichtige Art und Weise" symbolisiert für mich den verstörendsten Aspekt dieses Skandals. Die US-Regierung - "von den Menschen, durch die Menschen und für die Menschen", um Abraham Lincolns Gettysburg-Rede zu zitieren - war jahrelang unaufrichtig zu ihren Bürgern und hat viele US-Unternehmen, die Telefon- oder Internetinfrastruktur betreiben, ebenfalls dazu gezwungen, unaufrichtig zu sein.

In einem alten Witz heißt es: "Wie kann man feststellen, dass ein Rechtsanwalt lügt?" Die Antwort ist: "Seine Lippen bewegen sich." Es gibt keine Veranlassung mehr, mit dem Finger auf Rechtsanwälte zu zeigen. Man kann im Witz stattdessen "NSA-Beamte" einsetzen. Unser Vertrauen in die US-Regierung ist zerbrochen - und es ist unwahrscheinlich, dass es in näherer Zukunft wieder gekittet wird.

Die Konsequenz daraus ist, dass wir der US-Regierung nicht mehr länger als "Internet-Hegemon" trauen können. Als in den 1990er-Jahren das Internet unablässig wuchs, während der telefonbasierte französische Onlinedienst Minitel gleichzeitig an Bedeutung verlor, beschwerte sich Frankreichs Präsident Jaques Chirac über die zunehmende Dominanz des Internets, das er als das "amerikanische Internet" beschrieb. Viele von uns amüsierten sich köstlich über Chiracs Provinzialität, dabei hatte er recht.

Die National Telecommunications and Information Administration, eine Behörde des US-Handelsministeriums, hat auch heute noch die Letztentscheidung über Veränderungen auf der höchsten Ebene des "Domain Name Systems" (das ist ein Verzeichnisdienst, der den Namensraum im Internet verwaltet, Anm.). Mangels eines globalisierten Verteilersystems wird das Internet also letztlich von der US-Regierung kontrolliert. Das versetzt diese in die Lage, Überwachungsmaßnahmen einzusetzen, die ohne diesen Grad an Kontrolle des Internets unmöglich wären.

Verbindungen kappen

Das Hauptargument für die privilegierte Position der US-Regierung in der Internetverwaltung ist, dass andere Regierungen, die für eine echte Internationalisierung dieser Verwaltung etwa in einer internationalen Telekommunikationsunion eintreten, als weniger verlässlich als die USA eingeschätzt wurden. Mit der schwindenden Zuverlässigkeit dieser im Zuge des NSA-Skandals kommen die Stimmen wieder auf, die gegen die amerikanische Internethegemonie protestieren. Die Frage, die sich stellt, ist: "Kann es so etwas wie ein nichtamerikanisches Internet geben?" Und in der Tat hat Brasilien bereits einen detaillierten Plan vorgelegt, der die Verbindungen zu einem US-kontrollierten Internet kappen soll.

Allerdings erscheint ein Ersatz der US-Hegemonie durch die Hegemonie anderer Regierungen, die ebenso ihre Überwachungsapparate haben und versuchen, Inhalte zu regulieren und die Meinungsfreiheit einzuschränken, nur schwerlich eine Verbesserung zu sein. Die Kardinalfrage ist vielmehr, ob wir ein Internet haben können, das frei oder zumindest freier von Regierungseinfluss ist, als dies heute der Fall ist. Angesichts der zentralen Stellung des Internets und unserer informationsgesättigter Leben ist dies von allerhöchster Bedeutung. (DER STANDARD, 4.11.2013)