G. Amendt: liberales Schweigen zur Entgrenzung.

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Alle reden über Pädophilie, aber kaum einer über die Erfahrungen, die Kinder damit gemacht haben. Pädophilie ist Teil einer narzisstischen Selbstverwirklichungsbewegung, die die Liberalisierung der Sexualität in eine neue Form der Repression hat übergehen lassen. Alle reden vom Kinderschutz, aber genauer hinzusehen ist vielen zu brisant.

So verwundert es doch, dass Josef Christian Aigner (der Standard, 23. 10. 2013) ausgerechnet aus der Bremer Pädophiliestudie von Rüdiger Lautmann Erkenntnisse für die Arbeit als Psychoanalytiker und die universitäre Lehre schöpfen will. Denn diese Studie hat expressis verbis gerade nichts mit Psychologie zu tun. Sie arbeitet mit grobmaschigen soziologischen Kategorien, die die Verletzungen der Kinder der Wahrnehmung entziehen. Dass am Ende verkündet wird, dass wir zwischen einer "echten" und "unechten" Pädophilie unterschieden sollen, um Gute von Bösen scheiden zu können, ist eine geschickte, dem Zeitgeist entsprechende Folgerung. Denn danach schädigt nur körperliche Gewalt die Kinder, sonst nichts. Dass es Gewalttätiges und tief Verletzendes auch ohne Gewalt gibt, wurde nicht zugelassen, weil das die simple Eindeutigkeit von Schuld und Unschuld verdunkelt hätte.

Aber nicht nur an dieser Front der Liberalisierung der 1980er-Jahre sind schwerwiegende Missverständnisse zu revidieren. Der politische Aktionismus gegen Gewalt hat dieses Missverständnis durch Trivialisierungen komplizierter Beziehungsdynamiken mit hervorgebracht. Zwar schmerzen auch blaue Flecken, aber immer verletzt die Erfahrung, dass eine geliebte Person, zumeist die Eltern, die Beziehung plötzlich einstellen und stattdessen in den Körper des Kindes mit Schlägen einzubrechen versuchen. Wer das übersieht, der übersieht im nächsten Schritt das pathologisch gesteuerte Missverständnis der Pädophilenpropaganda, die Verführung für harmlos hält, solange sie ohne Gewalt vonstattengeht.

Wo instrumentelle Gewalt - Schlagen, Treten oder Überwältigen - nicht vorkommt, da seien eben auch keine Gewalttäter am Werk. Auf dieses Missverständnis gerade auch außerhalb der Pädophilie sind die Legitimationsbeschaffer der "unvollendeten pädophilen Sexualbefreiung" aufgesprungen. Nur so konnte es zur Unterscheidung zwischen echten und unechten Pädophilen kommen. Die Echten seien gewaltlos, die Unechten hingegen nicht. Die Unechten seien zu bestrafen, während die echten straffrei gehalten und sogar bewundert werden sollen. Und ihr Einfühlungsvermögen für Kinder sei beachtlich. Prof. Aigner hat dieses "kinderliebend" in Anführungszeichen gesetzt. Er wollte damit wohl Zweifel kundtun, ob diese pädophile Liebe zu Kindern sublimatorischen Charakter hat, der das Sexuelle hinter sich gelassen hat.

Im Taumel der sexuellen Liberalisierung wurde nämlich übersehen, dass dem Kind die Zärtlichkeit gehört, aber nicht die überwältigende Leidenschaft erwachsener Sexualität. Pädophile "Kinderliebe" ist permanente Sexualisierung von Kindern, denn deren Freundlichkeit zielt ausnahmslos auf sexuelle Handlungen. Damit ist es keine Kinderliebe. Das ist das Ergebnis der Lautmann-Studie, wenn man sie aus der Sicht der Kinder liest. Kinderliebe als Selbstlosigkeit von Erwachsenen hat damit nichts gemein.

Das Insistieren der Medien auf der Pädophilie enthält auch eine Metaebene, von der sich nur hoffen lässt, dass sie wahrgenommen wird. Sie stellt das Schleifen von Grenzen zwischen Generationen und Geschlechtern während der letzten 30 Jahre infrage. Dem Zeitgeist galt als veränderungswürdig, was der Wunscherfüllung Einzelner im Wege stand. Das Zeitalter des Narzissmus - willst du es, dann nimm es dir!

Dieser Zeitgeist ist bis in die staatliche Pädagogik vorgedrungen: Die Broschüre Körper, Liebe, Doktorspiele, die erst 2007 vom deutschen Familienministerium aus dem Verkehr gezogen wurde, plädierte dafür, dass Eltern nicht nur über Sexuelles reden, sondern vielmehr ihren Kindern den Zugang zu ihren Genitalien eröffnen sollen. Die Kinder sollen diese erkunden dürfen. Das würde ihre sexuelle Entwicklung fördern und spätere neurotische Sexualstörungen verhindern.

Die Überschreitung von Generationengrenzen war in Teilen der Pädagogik selbstverständlich geworden. So störte sich auch niemand an dem Widerspruch, dass einerseits der Kampf gegen sexuellen Missbrauch und Gewalt in Partnerschaften mit landesweiten Plakattaktionen geführt wurde, dass aber andererseits in Broschüren zu inzestartigen Handlungen aufgerufen wurde. Die damit verbundene sexuelle Erregung wurde als naheliegend bezeichnet. Das Inzestuöse war intendiert. Solche Sexualpädagogik kann Pädophilie dann nur als Befreiung verstehen.

Missverständnisse

Die Äußerungen des Kollegen Aigner könnten das Missverständnis stützen, dass die liberale Öffentlichkeit sich als Motor der sexuellen Befreiung nicht kritischen Fragen zu stellen hätte. Es war der journalistische und politische Hochadel, dessen Ohren selbst dann noch glühten, als an der Odenwaldschule der Reformgeist eines Gerold Becker ihre Kinder schon längst seriell missbrauchte und ihre Kinder sich umbrachten. Und es war die Wiener Burg, an der Otto Mühl nach der Strafverbüßung wie ein verlorener Sohn willkommen geheißen wurde.

Deshalb: Wer über die politische Dimension der Pädophilie nicht reden will, der verweigert als Alt-68er die Verantwortung für das damalige Tun und dessen Folgen. Pädophiliekritik ist deshalb alles andere als Gekneife. Sie ist eine notwendige Rückbesinnung auf das liberale Schweigen zur kulturellen Entgrenzung, die große Bereiche der Gesellschaft und Lebenskultur erfasst hat. (Gerhard Amendt, DER STANDARD, 6.11.2013)