Seine Kräfte würden langsam versiegen, sagt Hermann Nitsch, der Ende August seinen 75. Geburtstag feierte, mit leiser Stimme. Aufhören aber ist nichts für ihn, ganz im Gegenteil: Seit geraumer Zeit verlässt er sein geliebtes Schloss Prinzendorf bewusst, um das Orgien Mysterien Theater, ein alle Sinne und Genres umfassendes Gesamtkunstwerk, andernorts vorzustellen.

Natürlich können im Ausland immer nur Facetten dargeboten werden. Im Herbst 2012 zum Beispiel realisierte "der Nitsch", wie er auch von Freunden genannt wird, in Havanna eine Aktion, die begeistert aufgenommen wurde. Bei den Leipziger Festspielen sorgte er im Juni dieses Jahres für helle Aufregung: Tierschützer protestierten gegen die Verwendung von Blut. Und nun, ab 7. November, folgte auf der Kunstmesse "Contemporary Istanbul" im Kongresscenter eine Mal-Aktion. Sie war die 66. im Leben des Hermann Nitsch und erstreckte sich über vier Tage.

Hazer Özil, Gründer der Galerie Dirimart in Istanbul, wollte Nitsch schon letztes Jahr für ein Spektakel gewinnen. Doch der Aktionskünstler winkte ab: Der dreiseitig geschlossene Raum, den es zu bespielen gilt, hat riesige Ausmaße. Heuer aber nahm Nitsch die Herausforderung an. Bemalt und beschüttet wurden insgesamt 52 Leinwände mit einer Gesamtfläche von 186 Quadratmetern.

Um Kontinuität zu wahren, brachte sein von Ehefrau Rita Nitsch geleitetes Team praktisch alles aus Österreich mit: die Farbpigmente, den Binder, die Spachtelmasse, die Pinsel, Schwämme und Schüttgefäße - und natürlich die Malhemden sowie die liturgischen Gewänder für die temporären Installationen.

Schon Wochen zuvor war die Jute nach Istanbul transportiert worden. Ein Schreiner zimmerte die Rahmen und zog die Leinwände auf; doch sie wurden nicht, wie vereinbart, grundiert liefert. Der erste Tag, der Donnerstag, begann also mit einer herben Enttäuschung. Denn die Assistenten und auch die türkischen Helfer mussten erst die Basis für den Rausch der Farben schaffen. Was für die Zuschauer mäßig spannend ist.

Am Freitag schließlich konnte es losgehen: An den Wänden lehnen bündig die Leinwände, auch der Boden ist ausgelegt mit großen Formaten. Johannes Schomberg und Julia Taschler, die beiden Assistenten, erklären den etwa zehn Türken, alle barfüßig und in noch weißen Malhemden, was zu tun ist. Jeder darf schütten (etwa mit Plastiksektflöten), jeder muss Farbe von den oberen Rändern der Leinwände herunterrinnen lassen, jeder soll über die nassen Bilder am Boden laufen.

Und Nitsch, der mitten im Geschehen etwas windschief, in sich gesunken auf einem Sessel sitzt, schaut zu: "Die Nitsch-Werkstatt", sagt er lächelnd. Die gesamte Philosophie des Orgien-Mysterien-Theaters aber, sie stammt einzig von ihm.

Nur wenige Farben hat Nitsch diesmal ausgewählt: Karmin-, Bordeaux- und Zinnoberrot, Braun, Gelb und Schwarz. Mit Material wird alles andere als gespart. Andauernd rühren Helfer mit einem riesigen Mixer Farbe an. Nitsch gibt Anweisungen: "Mehr Wasser!" Oder: "Mehr Kaminrot!" Oder: "Das mach ma gleich pur!" Mit dem Stock zeigt er Julia Taschler, welche weißen Stellen sie noch zumalen soll.

Gewaltige Explosionen

Zeitweise fallen ihm die Augen zu - wie bei einem Kater: Nur wenn es die Situation erfordert, ist er hellwach. Und dann gibt er Johannes Schlomberg, der gezielt die Kleinformate beschüttet, knappe Kommandos: "Schau, dass der Schütter breit gelingt!" Was nicht so leicht ist. Nach einem kurzen scharfen Blick auf das Ergebnis: "Kannst du so lassen." Und dann wird die nächste Leinwand quasi abgeschossen.

Die Vorgänge wiederholen sich, die Arbeitsprozesse sind eingespielt. Und zwischendurch erhebt sich der alte Meister, um selbst Hand anzulegen. Seine Lehrlinge sehen ihm zu. Er drückt mit dem Schwamm konzentriert Farbe auf Leinwände, er malt kreisförmig mit dem Pinsel, er schüttet ein wenig herum. Dann verwischt er Farben auf Malhemden, die nun als fertig gelten - und ausgezogen werden. Später dann besieht er sich die gewaltige Farbexplosion rund um sich. Und er weiß: Sie ist gelungen.  (Thomas Trenkler, derStandard.at, 11.11.2013)

Am 19.11. wird um 19 Uhr in der Wiener Nitsch Foundation "Hermann Nitsch - Aktionsfotos 1960 bis 1979" eröffnet. Am 20. 11. gibt Nitsch um 20 Uhr in der Wiener Jesuitenkirche ein Orgelkonzert.

Foto: Thomas Trenkler
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