Erhielt einen ERC Starting Grant: Stephan Kloos.

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Ob TCM, Ayurveda oder tibetische Medizin - die traditionelle Heilkunst boomt weltweit. "Die enorme Nachfrage hat mittlerweile eine global agierende 'traditionelle' Pharmaindustrie entstehen lassen, in der die erforderlichen Zutaten in Tonnen gehandelt und die Umsätze in Milliarden Euro gerechnet werden", sagt der Medizinanthropologe Stephan Kloos vom Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Seit Jahren beschäftigt sich der Forscher mit tibetischer Medizin als Kultur- und Wirtschaftsphänomen, nun erhält er für seine Arbeit einen ERC Starting Grant des Europäischen Forschungsrats in der Höhe von 1,46 Millionen Euro.

Konkret will Kloos gemeinsam mit einer tibetischen Ärztin, einem englischen Medizinanthropologen und Entwicklungshilfeexperten sowie einem indischen Wirtschaftswissenschafter die tibetische Medizinindustrie in Indien, China, Bhutan und der Mongolei unter die Lupe nehmen. "Im Gegensatz zu TCM oder Ayurveda ist die Industrie hinter der tibetischen Medizin jetzt noch überschaubar und jung genug, um sie mit einem kleinen Expertenteam analysieren zu können", sagt er.

Dabei wird es um Fragen der pharmazeutischen Qualität und der Patientensicherheit ebenso gehen wie um den Umweltschutz, wirtschaftliche Interessen, Politik, Kultur oder geistiges Eigentum. "Diese Industrie hat viele Aspekte, deren Zusammenwirken bisher noch nicht untersucht wurde und deren Auswirkungen keiner kennt", verweist der 37-Jährige auf das wissenschaftliche Neuland, das er in den kommenden fünf Jahren urbar machen will.

Warum die Untersuchung dieses großen neuen Wirtschaftsfeldes eine anthropologische Herangehensweise erfordert und nicht der Wirtschaftswissenschaft überlassen werden kann, begründet Kloos, der sein medizinanthropologisches Doktoratsstudium in Berkeley absolviert hatte, so: "Die Daten, mit denen wir arbeiten, müssen erst direkt vor Ort ethnografisch erhoben werden. "Dazu braucht man nicht nur Sprach- und Ortskenntnisse, sondern auch relativ viel Zeit im Feld und muss zudem in kritischer Beobachtung trainiert sein." Außerdem könne diese Art der Industrie nicht allein auf ihren wirtschaftlichen Aspekt reduziert werden, da hier Kultur, Politik, Ökologie und viele andere Faktoren mitspielen.

Mit seiner Lust an ausgedehnten Bergwanderungen weit abseits der Zivilisation und den Erfahrungen seiner mehr als zweijährigen Forschungstätigkeit in Indien bringt Kloos jedenfalls die optimalen Voraussetzungen für anthropologische Feldforschung in abgelegenen Dörfern Asiens mit.

Auf seinen Reisen ist er bereits vor Jahren mit der traditionellen tibetischen Medizin in Berührung gekommen: "Eine moderne Gesundheitsversorgung funktioniert in manchen Regionen Indiens überhaupt nicht, da die Dörfer oft so entlegen sind, dass kein Arzt dort hinkommt" , berichtet er. "Oft gibt es dort aber Heiler, die die Kranken nach traditionellen Methoden und mit heimischen Heilkräutern behandeln."

Über ein Jahr lang war er auf diesen abenteuerlichen Pfaden mit seiner Frau und der damals acht Monate alten Tochter Sophia unterwegs. "Das hat alles wunderbar funktioniert, und im Notfall hatten wir durch meine Forschung Zugang zu den besten Ärzten", sagt der Forscher. (Doris Griesser, DER STANDARD, 20.11.2013)