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Die Diagnose "geistige Abartigkeit" bringt Menschen oft jahrelang hinter Gitter - unabhängig davon, wie schwer die Tat war.

Foto: apa/fohringer

Lebenslang im Gefängnis sitzen, ohne eine schwere Straftat begangen zu haben: das ist in Österreich möglich. Wer als "geistig abnorm" oder psychisch krank eingestuft wird, kommt nicht in Strafhaft, sondern in den sogenannten Maßnahmenvollzug, der auf unbestimmte Dauer verhängt wird. Diese Praxis sorgt für heftige  Kritik – auch im Justizministerium. "Kranke gehören nicht in den Strafvollzug", sagt Karin Dotter-Schiller, stellvertretende Leiterin der Strafvollzugsabteilung im Ministerium auf einem Symposium zum Thema, "wir kämpfen hier seit Jahrzehnten um eine Änderung."

Die Politik ließ sich bislang nicht überzeugen, die Zahl der Insassen stieg indessen von 2001 bis 2010 um 61 Prozent. Wer einmal "drinnen" ist, kommt so bald nicht mehr heraus: 5,4 Jahre dauerte es im Jahr 2010 durchschittlich, bis ein psychisch kranker, aber zurechnungsfähiger Insasse wieder entlassen wurde, neun Jahre davor war ein Täter im Schnitt noch 3,8 Jahre angehalten worden. 14 Prozent der Insassen bleiben sogar zehn Jahre oder länger in der Anstalt. "In Österreich sitzen so viele Menschen im Maßnahmenvollzug wie in ganz Deutschland", sagt Alois Birklbauer, Leiter der Abteilung Strafrechtswissenschaftspraxis an der Kepler Uni Linz.

Lange Haft für geringe Tat

Die Dauer der Anhaltung ist unabhängig von der Schwere der Tat: "Der Ausspruch 'Ich schlag dir gleich den Schädel ein' kann dazu führen, dass man auf unbegrenzte Dauer eingesperrt wird", sagt Birklbauer. Kein Ausnahmefall: Fast dreißig Prozent sitzen wegen gefährlicher Drohung oder Nötigung ein, fünf Prozent wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Es reicht, eine Straftat begangen zu haben, die mit einer Haftstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist – unabhängig davon, wie hoch die Strafe dann tatsächlich ist und ob der Täter davor unbescholten war. Anders in Deutschland: Hier braucht es eine Verurteilung zu zwei Jahren Haft, der Täter muss Wiederholungstäter sein. 

In den Maßnahmenvollzug kommen Täter, die wegen einer psychischen Erkrankung als gefährlich eingeschätzt werden oder als unzurechnungsfähig gelten. Die Diagnose wird von einem Gutachter erstellt, wobei die Befunde oft für Kritik sorgen: "Zwischen Lästigsein und psychisch krank ist es oft nur eine Gratwanderung", sagt Birklbauer.

Wer in eine Anstalt kommt, hat nur einmal alle zwei Jahre das Recht, gehört zu werden, der Termin für diese Anhörung werde jedoch häufig so kurzfristig angesetzt, dass kein Anwalt mehr beigezogen werden kann, kritisiert die emeritierte Rechtsanwältin Katharina Rueprecht. Die Folge: Die Staatsanwalt habe in der Frage, ob ein Insasse vorzeitig entlassen wird oder nicht, deutlich stärkere Waffen in der Hand als der oder die Betroffene selbst. 

Zwangsbehandlungen

Auch die Bedingungen in den Anstalten seien menschenrechtswidrig, sagt Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk: Es mangle an geeigneter Therapie, Patienten würden de facto zu ärztlichen Behandlungen gezwungen: Wer sich gegen eine Behandlung sträube, minimiere nämlich seine Chance auf Entlassung aus der Anstalt. Wer sich trotzdem weigere, könne zwangsbehandelt werden. Laut Justizministerium gibt es 25 derartige Fälle im Jahr, meist handle es sich um Neuroleptika-Depotspritzen mit einer längerfristigen Wirkung - und zahlreichen Nebenwirkungen. "Würde man außerhalb des Maßnahmenvollzugs einem Menschen solche Qualen zuführen, hätte das eine Anklage wegen schwerer Körperverletzung zu Folge", sagt Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk.

Menschenrechtler Manfred Nowak ist überzeugt, dass die Umstände im Maßnahmenvollzug ein "großes Risiko" bergen, einer Prüfung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht standzuhalten.

Die Reformverweigerung der Politik hat jedenfalls auch budgetäre Gründe: Je weniger Menschen im Maßnahmenvollzug, desto höher der Bedarf an Therapiestellen und betreuten Wohnplätzen. (Maria Sterkl, derStandard.at, 20.11.2013)