"Die böhmische Aristokratin, der ihre Familie wichtig ist, zählt zu ihren Freunden Kardinäle und alte Kommunisten, Fürsten und Freigeister". Barbara Coudenhove-Kalergi.

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In ihrem heuer erschienenen Memoirenband Zuhause ist überall beschreibt Barbara Coudenhove-Kalergi Josef Burg als einen Kollegen, den sie auf einer ihrer Recherchereisen in der Czernowitz getroffen hat. Er war der Herausgeber der Czernowitzer Blätter, einer jiddischen Zeitung. "Wir ahnen", schreibt sie, "Josef Burg ist ihr einziger Leser." Morgens schreibt er die Zeitung und druckt sie in einem Exemplar, nachmittags wechselt er die Rolle und wird zum letzten jiddischen Zeitungsleser in einer Stadt, die früher eine riesige jüdische Gemeinde hatte.

Es ist kennzeichnend für Barbara, dass sie eine solche Geschichte findet, dass ihr empathischer Blick gerade diesen alten Mann gefunden hat, dass sie ihn gefragt und gefragt hat, bis er das Geheimnis der letzten jiddischen Tageszeitung dort preisgibt und damit auch einen Blick freigibt auf die Tragödie von Mord und Vertreibung. Sie berichtet das, trocken und knapp. Große Worte und moralische Ermahnungen sind ihre Sache nicht. Als Journalistin und als Person ist sie mitfühlend, aber nie sentimental, eine Art No-nonsense-Humanistin, deren Stimme längst zum Gewissen der Nation geworden ist. Macht hat sie noch nie beeindruckt. Sie ist mit Privilegien aufgewachsen und hat sie durchschauen gelernt, als sie diese verlor.

Als Kind, in Prag, erlebte sie eine glückliche, posthabsburgische Welt, die sie noch heute als idyllisch empfindet. Ein Palast. Eine deutsch sprechende Enklave, weltoffen und gelassen, katholisch, ohne dogmatisch zu sein, dekoriert mit interessanten Exzentrikern wie dem Onkel, der immer mit einer ägyptischen Mumie reiste, oder der japanischen Großmutter, die sie nie traf, deren Züge aber in den Gesichtern ihrer aristokratischen Kinder und Enkel Spuren hinterlassen hatten.

Als die Familie 1945 vertrieben wurde und zu Fuß in die relative Sicherheit des besetzten Österreichs floh, war dieser Traum vorbei, und sie entdeckte eine andere Realität. "Österreich ist für mich, das Prager Kind, zunächst einmal die Fremde", schreibt sie in Zuhause ist überall, ein schöner, hoffnungsvoller Titel, dem die Autorin allerdings selbst widerspricht. Über ihre eigene Rückkehr nach Prag als Korrespondentin des ORF und ihre kurze Überlegung, sich dort eine Wohnung zu nehmen, reflektiert sie nach einem Besuch ernüchtert: "Ich bin dienstlich hier, auf Besuch, aber ich bin nicht zurückgekommen. Es gibt kein Zurückkommen. Die Vertreibung war endgültig."

Das wäre Grund genug zu verbittern, sich ungerecht behandelt zu fühlen - nicht aber für sie. Vielleicht liegt der Grund dafür in einer sehr kindlichen Eigenschaft, die sie sich immer erhalten hat: ihrer Neugier. Sie ist eine leidenschaftliche Beobachterin, fragt Menschen Löcher in den Bauch, bohrt geduldig nach, will verstehen, lässt nicht locker, gibt sich nie zufrieden mit der offiziellen Version. Sie interessiert sich für Menschen, für deren Meinungen - auch und gerade wenn sie ganz anders denken, als sie selbst -, für ihre Lebensumstände bis ins kleinste praktische Detail. Sie hat alles gelesen und durchschaut, aber ob als Berichterstatterin oder als engagierte Zuhörerin gehen sie die Menschen immer mehr an als deren Politik, ihre Ideologie, ihre Religion.

Einmalige Lebensgeschichte

Dabei kommt ihr eine Lebensgeschichte zugute, die vielleicht einmalig ist. Als junge Journalistin in Wien - in den Nachkriegsjahren, als eine junge Frau enorm mutig sein musste, sich in diese Männerdomäne zu wagen - wanderte sie langsam, aber stetig nach links, von der Presse bis zur Arbeiter-Zeitung, und heiratete schließlich Franz Marek, einen kommunistischen, zeitweise stalinistischen Intellektuellen, einen Funktionär und Juden aus einer Arbeiterfamilie, einen Mann, den sie als die Liebe ihres Lebens beschreibt. Ihr Bekanntenkreis vereint so viele Widersprüche wie der ehemalige Vielvölkerstaat. Die böhmische Aristokratin, der ihre Familie wichtig ist, die Katholikin, die Zweifler und Atheisten schätzt, zählt zu ihren Freunden Kardinäle und alte Kommunisten, Fürsten und Freigeister. Franz Marek nannte sie ein "rosarotes Kerzenweiberl".

Tatsächlich sind Barbaras Freundschaften wie die olympischen Ringe, denn sie bringen Kreise einander nahe, die sich sonst nie treffen werden, die sich aber bei ihr immer überschneiden und verketten. Es ist ihr egal, ob jemand anders denkt, solange er oder sie das ehrlich und anständig tut, solange es möglich ist, darüber zu sprechen, zu fragen und mehr zu fragen. Komplexität und Unvereinbarkeiten machen das Leben interessant. "Liberale Katholiken, liberale Kommunisten, liberale Bürgerliche ja - aber nur ,liberal' ist mir ein bisserl zu wenig", kommentiert sie trocken. Über Bruno Kreisky schreibt sie eine Skizze, die gleichzeitig ein Selbstporträt ist: "Er kann, was die meisten seiner Parteifreunde nicht können: Parteigrenzen überspringen, die Werte und Traditionen anderer verstehen und respektieren und, von diesen ausgehend, Gemeinsamkeiten finden."

Was sie mit Kreisky verbindet, ist auch ihr sehr pragmatisches Verständnis von Toleranz, das nicht auf Bewunderung anderer basiert - ein instabiles und gefährliches Fundament -, sondern auf der Überzeugung, dass man anderen Menschen bestimmte Dinge einfach nicht zumuten kann und dass es uns allen am besten gehen wird, wenn wir nicht versuchen, unser Verständnis durchzusetzen, sondern hinnehmen, dass andere Menschen andere Werte haben. Vielleicht nehmen wir es schulterzuckend hin, aber das ist allemal besser als die Unmenschlichkeit der ideologischen Reinheit.

Der israelische Schriftsteller Amos Oz wurde einmal gefragt, welche Lösung er im Friedensprozess im Nahen Osten bevorzugen würde. "In jedem Drama gibt es zwei mögliche Lösungen", antwortete er, "die eine nach Shakespeare, die andere nach Tschechow. Bei Shakespeare ist die Bühne am Ende des letzten Aktes voller Leichen, und der Geist der Gerechtigkeit schwebt über allem. Bei Tschechow sind alle unzufrieden, alle fühlen sich schlecht behandelt, glauben, dass sie zu viel aufgegeben haben - aber sie leben alle noch. Ich bevorzuge eine Tschechow'sche Lösung." Diese Analyse hätte von Barbara stammen können. In einem politischen Klima, in dem sich Partikularinteressen gerne hinter einer Rhetorik uralter Werte verstecken, macht man sich damit nicht nur Freunde.

So hat Barbara sich eine einzigartige Position geschaffen: Niemand kann sie vereinnahmen, niemand kann sie ignorieren, aber sie gehört auch niemandem, muss niemandem Gefolgschaft leisten. Politiker jeder Couleur bekommen das immer wieder zu spüren, wenn das aristokratische rosarote Kerzenweiberl ihnen mit ruhigen Worten Feuer am Dach macht.

Einmal hat sie schließlich selbst alles verloren. Sie weiß, wie das ist, und weiß auch, wie verletzlich es Menschen macht, gerade Menschen, die nicht die eigene Sprache sprechen, die machtlos sind und immer wieder von Politikern als Bauernopfer missbraucht werden. Barbara hat das als Verpflichtung begriffen. Obwohl und weil niemand es hören will, schreibt und spricht sie immer wieder über Migranten und Flüchtlinge; und sie hört nicht auf, gegen Ausländerhass aufzutreten, und bis vor kurzem hat sie Asylsuchenden Deutschunterricht gegeben - ehrenamtlich, regelmäßig und fernab der Öffentlichkeit.

Wer seine Heimat verloren hat, weiß, was Heimat bedeutet, weiß, dass es ein notwendiges Wagnis ist, eine neue zu finden. Der alte jüdische Journalist, der sich seine Heimat jeden Tag neu erschreiben musste, hielt eine Art Mahnwache für eine Kultur, die aus der Welt hinausgemordet wurde, eine Kultur, die sich nicht ändern wird, solange er schreiben konnte und die mit ihm gestorben ist. Wenn es für Menschen wie ihn, Menschen aus verschiedenen Kulturen und mit unterschiedlichen Geschichten, wieder eine Heimat geben soll, dann müssen wir das Wagnis eingehen, uns gemeinsam neu zu erfinden. Vielleicht werden wir alle glauben, wir hätten zu viel aufgegeben in diesem Prozess, aber wer viel aufgibt, kann auch viel gewinnen. Barbara schreibt nicht nur darüber: Sie lebt es. (Philipp Blom, Album, DER STANDARD, 23./24.11.2013)