Stalin ist an allem schuld! Hätte der sowjetische Staatsführer nicht auch noch Ostgalizien einkassiert, womöglich wäre der Ukraine heute das Hin-und-her-Irren zwischen Ost und West erspart geblieben, und Kremlchef Wladimir Putin müsste sich keine Sorgen um die Loyalität seiner Vasallen in Kiew machen. So aber ist die Ukraine seit der Auflösung der Sowjetunion zum Spielball divergierender Interessen in Moskau, Brüssel und Washington geworden.

Die Strippenzieher in Ost und West bestärken die Fliehkräfte in einem Land, das schon aus historischer Sicht gespalten ist. Die Bruchlinie verläuft entlang des Dnjeprs, der das Land s-förmig in zwei Hälften teilt. Die eine Hälfte gehörte einst zur Habsburger-Dynastie beziehungsweise Polen, die andere wurde vom Zaren aus Moskau regiert. Im Westen wird Ukrainisch gesprochen, im Osten mehrheitlich Russisch, der Westen ist katholisch, der Osten russisch-orthodox.

Und auch die Frage, wohin die Ukraine eigentlich gehört, wird diametral beantwortet. Während sich die Menschen im Donezbecken vornehmlich an Moskau orientieren, schauen die meisten Lemberger Richtung Europa. Das Wahlverhalten der letzten Jahrzehnte spiegelt diese Tendenz wider. Der Westen wählt Politiker mit proeuropäischer Rhetorik, der Osten - mit Ausnahme Kiews, wo man Russen abfällig Moskali (von Moskau) nennt - setzt auf prorussische Politiker.

Dass mit Wiktor Janukowitsch ausgerechnet ein als prorussisch geltender Staatschef die Integration in die EU so weit vorantrieb, verwundert nur auf den ersten Blick. Denn ebenfalls seit Jahren betreiben alle Politiker in Kiew - gleich welcher Couleur - eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West in der Hoffnung auf preiswerte Rohstoffe aus Russland und billige Kredite und Investitionen aus der EU.

Das Problem für Kiew ist: Sowohl in Moskau als auch in Brüssel wird eine eindeutige Positionierung verlangt. Der Kreml hat dies zuletzt ganz offen getan: entweder oder! Entweder die Ukraine verzichtet auf das Freihandels- und Partnerschaftsabkommen mit der EU oder auf den russischen Markt. Mit einigen Zollschikanen im Sommer hat der Kreml angedeutet, welche Verluste das bedeuten könnte. Diese wären tatsächlich für die Ukraine gewaltig. Selbst wenn die Moskauer Schätzungen von zwölf Milliarden Dollar pro Jahr bewusst hoch gewählt sind; ein Minus in Milliardenhöhe ist für die finanziell angeschlagenen Osteuropäer nicht zu verkraften - zumal auch in den EU-Kassen Ebbe herrscht.

Die Rhetorik von José Manuel Barroso, der das Handeln Russlands "scharf missbilligte", ist allerdings wohlfeil, denn auch in Brüssel wird Geopolitik immer noch als Nullsummenspiel verstanden: Die Ukraine gilt in diesem Fall als Beute, die es Moskau zu entreißen gilt. Das Partnerschaftsabkommen ist mit der von Russland initiierten Zollunion nicht vereinbar, wie aus EU-Kreisen zuletzt mehrfach verlautete. Dann darf man sich nicht wundern, wenn Russland mit der Schließung seines Marktes droht.

Um Kiew also von der Notwendigkeit einer Westwendung zu überzeugen, hätte es schon mehr als schöner Worte bedurft. Putins Angebot, dass sich alle drei Seiten an einen Tisch setzen, ist daher nicht so abwegig wie nun dargestellt. Solange keine Partei die Probleme der Ukraine allein lösen kann und trotzdem beide Seiten an ihr zerren, ist der Spagat zwischen West und Ost für die Ukrainer schmerzhaft. (André Ballin, DER STANDARD, 26.11.2013)