Die gesellschaftliche Sehnsucht nach Orten sozialer Zusammenkunft werde immer größer, sagt der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett. Im Bild der Hafenpavillon in Marseille.

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Das futuristische Gebilde "Metropol Parasol" stülpt sich über die historische Plaza de la Encarnación in Sevilla.

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In Magdeburg will die Gemeinde mittels einer öffentlichen Freiluftbibliothek Menschen auf die aussterbenden Straßen locken.

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Kulturhauptstadt 2013 bedeutet für viele Marseiller vor allem eines: vorprogrammierte Genickstarre. Denn der 46 mal 22 Meter große Pavillon am Vieux-Port, dem Alten Hafen mit seinen hunderten Segelbooten und Yachten, bietet seinen Besuchern einen etwas anderen Blick auf die Stadt. In den blitzblank polierten Edelstahlplatten, die sechs Meter über der Erde zu schweben scheinen, spiegeln sich kamerabepackte Touristen, schreiende Fischhändler und spielende, einander über das künstliche Himmelszelt zuwinkende Kinder.

Zeichen der Zeit

Die sogenannte Ombrière des britischen Architekten Sir Norman Foster, Resultat einer umfassenden Neustrukturierung der historischen Hafenpromenade, ist kein Einzelfall. Immer mehr europäische Großstädte erkennen die Zeichen der Zeit und reagieren auf den wachsenden Wunsch der Gesellschaft nach Sozialisation und Zusammenkunft im öffentlichen Raum, der über einen unter Konsumzwang geschlürften Latte macchiato in der Fußgängerzone weit hinausgeht.

In Sevilla schuf Architekt Jürgen Mayer H. unter dem Titel "Metropol Parasol" ein futuristisches Gebilde aus Holz, das sich wie eine überdimensionale Pilzkultur über die historische Plaza de la Encarnación stülpt und so einen neuen urbanen Platz generiert. Hoch oben auf dem Dach gibt es zudem einen 400 Meter langen Skywalk, von dem aus man das gesamte Stadtzentrum von Sevilla überblicken kann.

Freiluftbibliothek

In Oslo baute das norwegische Büro Snøhetta ein Opernhaus, in dem man nicht nur der hohen Kunst von Verdi und Puccini frönen, sondern auch etwas profaneren Freizeitbeschäftigungen wie Skaten, Fliegenfischen und Sunset-Watching nachgehen kann. Das gesamte Dach der Oper, die wie eine kantige Eisscholle aus dem Fjord ragt, ist öffentlich zugänglich. 2009 wurde das außergewöhnliche Projekt mit dem Mies van der Rohe Award für zeitgenössische europäische Architektur ausgezeichnet.

Und in Magdeburg, Sachsen-Anhalt, entschied sich die Gemeinde, mittels einer öffentlichen Freiluftbibliothek Menschen auf die aussterbenden Straßen zu locken. Das sogenannte "Lesezeichen" im Stadtteil Salbke ist eine Art XXL-Bücherregal mit Sitznischen, Vitrinen und einem Bühnenturm für Lesungen, Band-Auftritte und Theateraufführungen des benachbarten Kindergartens. Der Bücherbestand in der von der der Architektengruppe Karo geplanten Open-Air-Library ist mittlerweile auf mehr als 10.000 Stück angewachsen.

Kopenhagen für alle

"Es mag vielleicht keine besonders reißerische These sein", sagt der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett im Gespräch mit dem STANDARD, "aber Civility, wie ich es nenne, also die Fähigkeit zusammenzuleben, ist die Basis jeder Zivilisation. Und die gesellschaftliche Sehnsucht nach Orten für diese Civility wird meiner Beobachtung nach immer größer." Nicht zuletzt manifestiere sich dies auch in der steigenden Anzahl an herausragenden Projekten im öffentlichen Raum.

Die Wanderausstellung "Kultur:Stadt. Kulturbauten von Bilbao bis Zeche Zollverein", die kürzlich im Kunsthaus Graz zu sehen war, widmete sich genau diesem Phänomen. Zu sehen waren Bauten, Platzgestaltungen und öffentliche, auch temporäre Eingriffe aller Art, die dazu beitragen, dass sich der Begriff Stadt im Laufe der vergangenen Generation stark gewandelt hat. In Fachkreisen wird diese Art der Transformation aufgrund der von jeher unvergleichlich hohen Lebensqualität der dänischen Hauptstadt auch "Copenhaganizing" genannt.

Soziale Interaktion

"Ich beobachte, dass Wohnen als Grundbedürfnis nicht nur in den eigenen vier Wänden stattfindet, sondern immer mehr in die Stadt hinausgetragen wird", sagt der Wiener Immobilienentwickler und Wohnbauträger Daniel Jelitzka von JP Immobilien. "Und im Gegensatz zu den eigenen vier Wänden findet draußen auf der Straße eine gewisse soziale Interaktion statt." Um der Evolution des Wohnens und Lebens in österreichischen Städten auf die Sprünge zu helfen, rief Jelitzka kürzlich den von ihm gesponserten "Superscape Award" ins Leben. Vorgestern, Dienstag, fand in Wien die Kick-off-Veranstaltung statt.

Ziel des mit insgesamt 30.000 Euro dotierten Architekturpreises ist die Entwicklung neuer Wohn- und Lebensmodelle, die auf den sozialen und gesellschaftlichen Wandel reagieren. Nicht zuletzt wünscht sich Jelitzka, der auch von einer "Bühne für alle" spricht, ein Überdenken der klassischen Stadtplanung - und zwar weg vom politischen Top-down hin zu Bottom-up-Bewegungen, also zu einer selbstständigen, individuellen, in gewisser Weise auch leidenschaftlichen Aneignung von Stadt. Sei es mit Spiegeln, Schollen oder Schwammerln. (Wojciech Czaja, DER STANDARD, 28.11.2013)