Reinhard Seiß: "Das G3 ist eine Demonstration der Lernunwilligkeit, Verantwortungslosigkeit und Raffgier der dahinter stehenden Akteure."

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Raumplaner Reinhard Seiß übt scharfe Kritik an der heimischen Raumordnung, die immer noch Shoppingcenter auf der grünen Wiese zulässt. Im Schweizer Kanton Bern sieht er ein echtes Vorbild. Die Fragen stellte Martin Putschögl.

derStandard.at: Ist es in Österreich immer noch zu leicht möglich, Einkaufszentren auf die "grüne Wiese" zu stellen?

Seiß: Lange Zeit war das viel zu einfach. Spät aber doch haben die Bundesländer ihre Gesetze zwar verschärft, doch stellen die bestehenden Handelsstandorte an der Peripherie und die Möglichkeit ihres Aus- und Umbaus – jüngst etwa beim Fischapark in Wiener Neustadt – weiterhin eine immense Hypothek für den innerstädtischen Handel dar. Manche Länder nehmen ihre neuen Regelungen durchaus ernst, in anderen zeigt sich aber immer wieder, dass die Raumordnung mit mehr oder weniger großer Kreativität bereit ist, die eigenen Gesetze zu umgehen, wenn es sich um ein Projekt handelt, das politisch gewollt ist.

derStandard.at: Wie läuft so eine Umgehung ab?

Seiß: In Niederösterreich etwa dürfen Geschäfte – zum Schutz der Gemeindezentren - nur noch in sogenannten Kerngebieten entstehen. Es kann aber vorkommen, dass auch ein abgelegener Standort im Flächenwidmungsplan als Kerngebiet definiert wird und dort somit alles möglich ist. Die Umweltverträglichkeitsprüfung wiederum ist bei den meisten Großprojekten reine Augenauswischerei. Sie setzt dann an, wenn ein Projekt im Grunde bereits beschlossen ist, und wird meist von jenen beauftragt, die hinter einem Bauvorhaben stehen. Das G3 in Gerasdorf rühmt sich ja, das erste Einkaufszentrum mit einem UVP-Verfahren gewesen zu sein. Darin wurde großes Aufheben um ein paar dort heimische Vogelarten gemacht, gleichzeitig aber der zusätzliche Verkehr von Tausenden Pkw pro Tag toleriert. Die Instrumente für eine geordnetere Entwicklung wären also vorhanden, die Handhabung lässt aber zu wünschen übrig. Österreich ist kein Land, in dem die Politik sich selbst Spielregeln auferlegt, die sie auch ernst nimmt.

derStandard.at: Für ein neues Projekt in Parndorf ist die Widmung schon vorhanden, eine UVP ist laut Bescheid nicht nötig, ein Entwickler könnte sofort zu bauen beginnen. Was kann man in so einem Fall tun?

Seiß: In Fällen, die oft auf lange zurückliegenden Planungen basieren, heißt es meistens: "Da lässt sich nichts mehr machen, das sind rechtliche Altlasten." Aber da muss man eben kreativ sein. Der Schweizer Kanton Bern reglementiert beispielsweise Einkaufszentren nicht nur über die Raumordnung, sondern auch über den Umweg der Luftreinhaltepolitik. Da wird ein limitiertes Kontingent an noch verantwortbaren emissionsinduzierenden Projekten vergeben, und wenn irgendwo ein neues Center aufsperren will, müssen sich die Betreiber an eine strenge Begrenzung der Parkplätze halten. Und wenn sich zeigt, dass dort trotzdem mehr Autos als gewünscht kommen, kann der Kanton die Ladenöffnungszeiten des EKZ beschränken. Ein solcher Eingriff wäre bei uns undenkbar. Doch er zeigt, dass es trotz mancher verfassungsrechtlicher oder sonstiger Hindernisse möglich ist, eine zukunftstaugliche Siedlungsentwicklung zu verordnen. Die Politik kann, wenn sie wirklich möchte, so ziemlich alles verändern. Andererseits helfen die besten Gesetze nichts, wenn die Entscheidungsträger nicht wollen.

derStandard.at: In den heimischen Bauordnungen gibt es zwar Mindeststellplatzzahlen, auch für Gewerbeobjekte, aber nirgends Höchststellplatzzahlen.

Seiß: Vorarlberg hat vor kurzem zumindest die Möglichkeit geschaffen, dass die Gemeinden die Stellplätze begrenzen dürfen. Dornbirn ist meines Wissens aber die einzige Kommune, die das tatsächlich auch macht. Auch die Stadt Salzburg limitiert seit längerem schon die Stellplatzzahl. Österreichweit herrscht aber weiterhin die Unsitte vor, dass Parkplätze viel zu groß und ebenerdig anstatt in Hoch- oder Tiefgaragen angeboten werden. Das ist eine enorme Flächenverschwendung.

derStandard.at: Das von Ihnen bereits angesprochene, vor einem Jahr eröffnete "G3" in Gerasdorf wirbt mit "4.000 Gratis-Parkplätzen".

Seiß: Das G3 ist eine Demonstration der Lernunwilligkeit, Verantwortungslosigkeit und Raffgier der dahinter stehenden Akteure. Es ging hier nie um einen konkreten Bedarf, um sinnvolle Kaufkraftströme oder gar um eine nachhaltige Standortpolitik und solche planerischen Kriterien. Die Politik schuf – ein ebenso – fragwürdiges Autobahn- und Schnellstraßenkreuz, und nicht etwa ein Handelskonzern, sondern die Immobilientochter einer politisch bestens vernetzten Bank entwickelte dort ein Einkaufszentrum. Angesichts eines vor allem in Wien schon mehr als gesättigten Büromarkts sind Shopping Center die letzten zuverlässigen Renditebringer in der Immobilienbranche: auf billigstem Grund entstehen hier in billigster Architektur riesige Flächen, für die niemand so viel zahlen kann wie der Einzelhandel. Und die Kunden fahren bereitwillig zig Kilometer dorthin, auf Straßen, die der Staat dafür zur Verfügung stellt.

derStandard.at: Marktbeobachter berichten nun aber auch schon von starkem Druck auf Einkaufszentren-Betreiber; der Trend geht aus Kostengründen hin zum Fachmarktzentrum, in diesem Segment gab es zuletzt auch das stärkste Wachstum.

Seiß: Dieses völlig überzogene Wachstum bringt nicht mehr nur den innerstädtischen Einzelhandel um, mittlerweile kannibalisieren sich die Konsumtempel auf der grünen Wiese bereits gegenseitig. Aus ökologischer Sicht bringt das leider nichts, denn ein Einkaufs- oder Fachmarktzentrum, das seine Tore schließt, bleibt trotzdem der Landschaft entzogen: Die Fläche ist versiegelt, die Straßen dorthin sind gebaut, und für die infrastrukturelle Erschließung wurden öffentliche Mittel unwiederbringlich vergeudet. Es baut ja auch niemand diese Ruinen zurück – die Altlasten werden einfach der Allgemeinheit überantwortet.

derStandard.at: Parndorf soll jetzt zumindest einen neuen Bahnhof bekommen, wenn sich die Politik mit der Wirtschaft auf die Umsetzung einigt. Ein Fortschritt?

Seiß: Das klingt nach einem netten Versuch, ist aber nicht viel mehr als ein schlechter Scherz. Ein Einkaufszentrum mit direktem Autobahnanschluss und gebührenfreien Parkplätzen wird – solange wir keine Kostenwahrheit im Straßenverkehr haben – auch trotz Anbindung an den öffentlichen Verkehr von mehr als 90 Prozent der Kunden mit dem Pkw angesteuert werden. Man fährt ja nicht wegen einer Glühbirne dort hin, sondern will mehr oder Größeres kaufen. In den Städten, wo Stellplätze knapp und teuer sind, ist es realistisch, dass die Kunden den Transportservice des Handels in Anspruch nehmen. Nicht aber auf der grünen Wiese. Sie sehen ja, wie viele Menschen mit der Badner Bahn in die Shopping City Süd fahren. (derStandard.at, 29.11.2013)