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Ein indischer Arbeiter schleppt in Neu-Delhi einen Sack Gewürze. Der Preis für Lebensmittel in Indien ist zum internationalen Politikum geworden.

Foto: ap/Kevin Frayer
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Es geht um die Ärmsten der Armen auf dem indischen Subkontinent. Darf der indische Staat ein Kilo Reis für unterernährte Familien um vier Cent einkaufen? An dieser lächerlichen Frage drohten die Verhandlungen in Bali zwischen den 159 Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation WTO am Donnerstag zu platzen. Doch in der internationalen Wirtschaftspolitik werfen selbst simple Fragen hochkomplexe Probleme auf. Worum geht es also - wie konnte der Streit um Reissäcke derart eskalieren, dass der Abschluss des wichtigsten Freihandelsabkommens seit Jahren gefährdet ist und Indien mit der EU, den USA, aber auch mit Thailand und Bangladesch im Clinch liegt?

Die Suche nach Antworten beginnt bei Jamie Morrison. Der Ökonom bei der Welternährungsorganisation FAO verfolgt die Verhandlungen in Bali mit und kennt die Zahlen über den Hunger in Indien auswendig. In den vergangenen sechs Jahren ist Indiens Wirtschaft pro Jahr um durchschnittlich sechs Prozent gewachsen. Trotz dieses Erfolgs kann das Land einen großen Teil seiner 1,2 Milliarden Einwohner nicht ausreichend ernähren. Hoch ist vor allem die Kindersterblichkeit, ein guter Gradmesser für Unterernährung. Von 1000 Kindern sterben in Indien 56 vor ihrem fünften Lebensjahr - in Österreich sind es vier. Geschätzte 40 Prozent der indischen Kinder sind unterernährt - das ist hinter Osttimor die zweithöchste Quote der Welt.

Die bisherigen Hilfsaktionen haben wenig bewirkt, doch im Sommer hat die Regierung in Neu-Delhi ein "beispiellos ambitioniertes Programm" aufgelegt, wie Morrison sagt. Jeder Bürger hat künftig das Recht auf fünf Kilo Getreide im Monat. Der Staat wird Reis, Weizen und Hirse von Bauern kaufen und die Lebensmittel an Bedürftige verteilen oder für schlechtere Zeiten einlagern. 24 Millionen Haushalte sollen profitieren - pro Jahr kostet die Aktion 13,5 Milliarden Euro. An dieser Stelle beginnen die Probleme Indiens mit der WTO. Die Welthandelsorganisation will den Handel liberalisieren und staatliche Subventionen begrenzen. Künstliche Preise nutzen niemandem etwas, wenn damit Märkte zerstört werden, so das Argument. Indien wird bei seinen Bauern Reis und Weizen aber überteuert kaufen - sie sollen einen Grund haben, weiterzuproduzieren. Doch bei der WTO gilt, dass Subventionen maximal zehn Prozent der Agrarproduktion ausmachen dürfen - ein Wert, den Indien weit überschreiten dürfte.

Verärgert von dem Plan sind zunächst Europäer und die USA. Die Europäer fürchten weniger um die eigenen Bauern, Reis und Weizen sind für die EU im Export unbedeutend. "Aber es geht ums Prinzip", sagt ein erzürnter EU-Vertreter in Bali zum Standard. Wenn Ausnahmen von den Subventionsgrenzen zur Regel werden, welchen Sinn haben dann Vereinbarungen? Wer sagt, dass nicht bald mehr Staaten den Kampf gegen Hunger als Grund vorschieben, um ihre Landwirtschaft zu subventionieren? Zudem hätte Indien auch legale Möglichkeiten für Beihilfen, etwa über regionale Förderungen, nur direkte Preisstützungen sind laut WTO verboten.

Angst in Pakistan

Erzürnt sind auch Indiens Nachbarn Bangladesch, Pakistan sowie Thailand. Indien will einen Teil der Lebensmittel einlagern - offiziell, um für Dürren vorzusorgen. Doch in Bangkok und Islamabad fürchtet man, dass Indien Reis zu Billigpreisen exportieren wird und damit für Millionen von Bauern in der Region die Lebensgrundlage zerstört. Die Ängste in Asien sind nicht unberechtigt, sagt Morrison von der FAO.

Die Europäer und die USA haben ein Kompromissangebot vorgelegt: Indien soll sein Programm haben, aber nach vier Jahren müsste Schluss sein. In der Zwischenzeit würde man sich in der WTO über langfristige Ausnahmeregeln für Agrarhilfen verständigen. "Das Angebot ist nicht attraktiv: Indien gibt Millionen für den Aufbau seines Programmes aus und soll alles nach vier Jahren abbrechen?", fragt Francisco Mari, der die Hilfsorganisation Brot für die Welt in Bali vertritt. Indien will tatsächlich unbegrenzt grünes Licht - auch um teure Klagen vor der WTO zu verhindern - und weigerte sich andernfalls, das vorbereitete Bali-Abkommen zu unterzeichnen. Dabei dient der Vertrag eigentlich nur dazu, die weltweite Zollabwicklung zu vereinfachen. Am Donnerstag schlug sich Südafrika dennoch auf die Seite Indiens. (András Szigetvari, DER STANDARD, 6.12.2013)