Narrative Bewältigungsstrategien, mit denen Leid überwunden werden kann: Erich Hackl.

Foto: Heribert Corn

Beim Öffnen des Bands hält man inne. Statt auf die erwartete Hackl'sche Prosa fällt der Blick auf Gedichtzeilen, nicht gereimt zwar und nur selten regelmäßig gruppiert, aber doch klar "poetisch" arrangiert. Über 116 Seiten hinweg, mit nur wenigen "Prosa"-Einschüben, ergibt das tatsächlich ein episches Gedicht. Beginnt man laut zu lesen, hört man eine Erzählerstimme, die in leicht rhythmisierter Sprache und mit einer Mischung aus Volkstümlichkeit und Archaik aus ihrem Leben erzählt. Man möchte sich jemanden vorstellen, der spätnachmittags in der Küche sitzt und laut nachdenkt. Die durch die Verszeilen produzierten Pausen deuten auf die Tätigkeit des Erinnerns, aber auch auf den Versuch hin, mental noch unverbundene Inhalte zusammenzufügen und zu einem Narrativ zu spinnen.

Der Titel dieses höchst ungewöhnlichen Buchs erinnert an eine Widmung, und darum handelt es sich natürlich auch. Nach dem Tod seiner Mutter, so Hackl im Nachwort, sei er nun darangegangen, sich "der früheren Welt zu versichern, sie mit ihrem Blick und in ihren Worten wahrzunehmen, und deshalb gehört dieses Buch meiner Mutter". Der Titel verweist jedoch auch auf ein Werk Bettine von Arnims, Dieses Buch gehört dem König (1843), in dem die Verfasserin den König von Preußen über die Zustände in seinem Land aufklärt.

Die sozialkritische Perspektive ist Teil von Hackls Buch, allerdings mehr in dem Sinn, dass "es Menschen trotz Armut und Mühsal gelingt, sich über die fremdbestimmten wie selbstverschuldeten Verhältnisse zu erheben, einen Moment lang oder für immer". Letztlich jedoch "gehört" dieses Buch der Mutter, weil sie es ist, die der Autor erzählen lässt, und zwar Geschichten, die Teil der Geschichte dieses Landes sind und dennoch aus einer weit entfernt liegenden Zeit und Region, dem nördlichen Mühlviertel in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, zu stammen scheinen.

Hin und wieder bedient sich diese Erzählerstimme ganz deutlich einer prophetischen Sprache: "Seine [des Vaters] ältere Schwester, / die ihm die liebste war, wurde ledig schwanger. // So habe ich es gehört." Die Erzählung der Mutter umfasst nicht bloß unmittelbar Erfahrenes, sondern auch Dinge, die sie aus dem Leben ihrer Eltern lange vor ihrer Geburt weiß: "Das ist meine erste Erinnerung: / die an den Vater, als er sechs Jahre alt war / und einer Verwandten geschenkt wurde." Die Mutter erzählt generationenübergreifend, und erst aus diesen Zusammenhängen ergibt sich die Bedeutung der Familiengeschichte.

Der Band wird eingeleitet mit einem Zitat des argentinischen Autors und Regisseurs Edgardo Cozarinsky: "Geschichten werden nicht erfunden. Sie werden vererbt." Familien leben mit ihren Geschichten und lernen, damit umzugehen. Häufig handelt es sich um narrative Bewältigungsstrategien, durch die Defizite und Schuldkonten ausgeglichen werden und, wie Hackl betont, Menschen sich auch über ihr Leid erheben lernen können. Gleichzeitig erkennt man, wie sich Geschichte abseits der Historiografie innerfamiliär fortschreibt bzw. -erzählt und, das kann man aus der Lektüre leicht ableiten, in dieser Form für jeden von uns relevant ist.

Besonders interessant mussten für Hackl jene Teile sein, in denen sich die "politische" Geschichte des Landes im persönlichen Erleben ausdrückt. Ganz zu Anfang etwa wird von denen erzählt, die jährlich zweimal ins Dorf kamen, deren Frauen "bunte Röcke und Kopftücher" trugen, von denen man sagte, sie stählen Kinder und Hühner, obwohl die Erzählerin schlussendlich betont: "Uns ging nie was ab." Ob die letzten beiden Verse nun dem Autor von Sidonie oder seiner Mutter zuzuordnen sind, ist unklar, aber letztlich irrelevant - sie passen in der zart angedeuteten Frage nach Verantwortung zur schlichten Konkretheit, die diese Stimme auszeichnet: "Unsere Schuld war es nicht, daß sie mit einem Mal ausblieben. / Unsere Schuld war, dass wir nicht fragten, wo sie geblieben waren."

Auch der "Anschluss" kann aus solcher Perspektive verblüffend einfach erklärt werden: "'Stell dir vor', sagte meine Mutter, / 'jetzt gehören wir den Deutschen' und 'Der Hitler hat uns ja direkt gestohlen. / Direkt gestohlen hat uns der Lump.'" Hackl idealisiert jedoch das volkstümliche politische Gefühl im Dritten Reich keineswegs; schnell gibt im Wirtshaus "ein Wort das andere / und das letzte hatte die Gestapo".

Diese historisch-politischen Aussagen in einer Welt "kleiner", meist ärmlicher Menschen haben gerade deshalb größere Berechtigung und Authentizität. Es gibt eine Tradition deutscher "Arbeiterdichtung", die ebenfalls versucht, die Erfahrung der Unterprivilegierten episch zu stilisieren.

In Heinrich Lerschs Mensch im Eisen (1925) etwa erzählt ein Arbeiter über seinen Vater und sich: "Vater verlor sein Auge mit sechzig Jahren, und seitdem ist er für die Werkstatt verloren. / Ich war zwanzig Jahre, da ich wie ein Blinder geführt wurde, / Mit verrußten Lungen, vermorschtem Leibe schlepp ich mich durch die Tage." Das klingt zunächst ganz ähnlich wie bei Hackl, aber in Lerschs Gesängen von Volk und Werk geht es letztendlich um die Aufhebung dieser Widersprüche in einem idealisierten, später nationalsozialistisch geprägten "Volkskörper".

Hackls epische Erzählung wendet sich mit dem konkreten Erleben und der unbekümmerten Darstellung eigener und fremder menschlicher Schwächen gegen das falsche Pathos von Texten wie Lerschs. Fast scheint es, als habe das Epische in Hackls Text die Aufgabe, den nationalsozialistischen Stil gerade durch diese Differenz zu hinterfragen.

Das Erzählen seiner Mutter, so Hackl, "war unmittelbar, deutungslos, offen, nicht auf ein Ende oder eine Lehre hin gerichtet". Auch wenn sich Hackl ab und zu die Freiheit nimmt, "ihr mein Gewissen anzudichten", bleibt diese Offenheit wesentliches Merkmal dieses Buches. Gerade das macht es so lesbar. Man glaubt es kaum: Hier entstand, im 21. Jahrhundert, ein episches Gedicht, das unmittelbar zu uns spricht und uns in seiner Direktheit packt und festhält. (Walter Grünzweig, Album, DER STANDARD, 7./8.12.2013)