Ich hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach. Weil die Assoziation des Passanten in der U-Bahn-Station auch nicht wirklich subitissimo nachvollziehbar war. "Das war dort super, oder?", meinte er – und bevor ich "Hä?" sagen konnte, plapperte er munter weiter: Dass er ja früher schon auch Sportler gewesen sei. Als Schüler. Völkerball und Seilklettern. Später ein bissi Fußball. Mit den Kollegen. "Und dem Bier danach." Ein kumpelhaftes Zwinkern. "Da bin ich Experte geworden. Beim Bier. Einer von sieben Millionen Nationaltrainern."

Der Mann hatte zwar Humor – aber ich keine Ahnung, wovon er sprach. Es schien ihn nicht zu kümmern: Der Wechsel vom Freizeitkicker zum Stammtisch-Trainer sei "ein schleichender Prozess gewesen". Erst "wie es zu spät war", habe er gemerkt, dass "ich seit Monaten nimmer am Platz war". Umso besser habe er analysiert. Sich ausgekannt. Gnadenlos Fehler der anderen aufgezeigt. Er hätte es besser gemacht. "Aber wie das halt so ist: Uns hat nie wer gefragt."

Zum Fußball kam die Formel 1. Skifahren sowieso. Und mit dem Einzug der Sportkanal-Beisl-Flatscreens noch andere Sportarten. "Da war keine Zeit mehr, selbst was zu machen", sagte der Mann in der U-Bahnstation. Er sah mich fast schuldbewusst an.

Mitteilungsbedürftige "Patienten"

Ein wenig begann es mir zu dämmern. Ich stand im Laufgewand am Bahnsteig. Verschwitzt. Bemüht, mit dem nassen, auskühlenden Zeug möglichst wenig Zugluft abzubekommen. Vermutlich – ziemlich sicher – inmitten des Weihnachtspunsch-Hin-oder-Heimfahr-Publikums ein seltsamer Anblick: Dass das "Patienten" anzieht, ist weder neu noch überraschend.

Aber der da wirkte normal. Kaum alkoholisiert, nur mitteilungsbedürftig-konfus. "Immer wenn ich Leute wie Dich seh‘ (im Sportgewand wird man automatisch geduzt. Von jedem. Anm.), denk ich mir, dass ich es wieder versuchen sollte." DAS war es also. Bevor ich den Mund aufbekam, ging es weiter: "Und wenn ich sehe, wo du grad warst, weiß ich, dass nicht einmal das Wetter mehr eine Entschuldigung ist."

Foto: derstandard.at/ped

Hier stieg ich wieder aus: Wo ich grad war? Ich war von Erdberg übers Lusthaus und den Stephansplatz zum Volkstheater gelaufen. Nach zehn Null-Sport-Tagen (abgesehen von zwei Tagen Pistengerutsche vor einer Woche) eine erwartbar-klägliche Performance. Und noch mal: "Wo ich grad war?" Ich war gerade von Lienz nach Wien heimgefahren, weil ich in Osttirol ein dreitägiges Skitourenevent moderiert hatte – und dabei keine Sekunde dazu gekommen war, auch nur ans Felle-Aufziehen zu denken. All das wollte ich kurz rauslaufen. Beim Loslaufen war es kalt und dunkel und windig gewesen. In Wirklichkeit wäre ich lieber am Sofa abgehangen. Aber das wäre weder mir noch meinen Mitmenschen gut bekommen. Wovon – zum Teufel – faselte der Mann also?

Meine keine Medaille

Jetzt wollte er "die Medaille" sehen. Ich drückte auf die Stopptaste. "Tschuldigung, aber wovon reden Sie eigentlich?" Der Mann war erstaunt, aber hilfsbereit: "Na vom Hallenlauf!" Er zeigte über meine Schulter. Auf den Bildschirm an der Stationswand. Auf dem lief zwar längst was Anderes, aber auf dem gegenüber kam der Kurzclip gerade wieder: In den Prater-Messehallen war heute ein "Indoormarathon" über die Bühne gegangen. Zum zweiten Mal. "Hunderte Teilnehmer" hatten die Texter auf den U-Bahn-Infoscreen geschrieben. Wer die Bedeutung des Wortes "Medienpartner" kennt, weiß auch, wie so etwas zu lesen ist: Das Großereignis war wohl nicht nur an mir spurlos vorüber gezogen.

Foto: Stefan Joham
Foto: Stefan Joham

Für den Mann in der U-Bahn-Station war klar: Wer in dieser Jahreszeit läuft, kann das unmöglich im Freien tun. Ich gab den Trimm-Dich-Motivator – und lobte den Herrn ob seines schlechten Gewissens: "Ja, da wird es schwer zu erklären, wieso man nicht zumindest schaut, ob es nicht doch Spaß macht." Es war – dem Anschein nach – der richtige Knopf. Er wollte überzeugt werden – und sagte: "Aber solche Events sind so selten. Wo kann man schon joggen bei so einem Wetter." So weit wie jetzt war ich in Lauf-Fragen noch nie über meinen Schatten gesprungen: "Die modernen Laufbänder in Fitnesscentern sind toll! Die machen Spaß und können super viel. Die haben sogar Fernsehen eingebaut: Skirennenschauen beim Fit-Werden. Cool, oder?" Der Mann schien beeindruckt. Hatte er von derlei wundertätigen Maschinen tatsächlich noch nie gehört? "Ich glaub, ich versuch es mal."

Er sah drein, als wolle er tatsächlich den Versuch wagen. Keine Ahnung, wie viele Karmapunkte mir das bringt. Aber für die "machen Spaß und können viel"-Lüge werden sie mir ohnehin sofort wieder abgezogen: Ich bin kein Hamster. Nicht im Job – und schon gar nicht in der Freizeit: Für mich gibt es nichts Öderes als Laufband-Laufen.

Foto: Stefan Joham
Foto: Stefan Joham

Dachte ich. Bis ich daheim die Seite des Indoor-Marathons anfuhr. Gegen 20 Runden durch zwei Messehallen ist so ein Laufband-Workout Hollywood. Actionpacked-Romance – mit Blingbling und Happy End: Konstante 15 Grad. Nicht ein Hauch Wind. Permanent gleiches "Wetter" und Licht. Ohne die geringste Bodenunebenheit. Durchgängig einheitlich beschallt – und ohne – ob der sinnlosen Durchgeknalltheit derer, die sich da quälen – staunendem Zufalls-Gaffer-Publikum mit blöd-lustigen Sprüchen. Zwanzig Mal die gleiche Start/Ziel-Linie. Zwanzig mal die gleichen Versorgungsstelle. Zwanzig Mal statt irgendeines – und sei es noch so öde – Panoramas, die immer gleichen Werbebanner: So stelle ich mir die Lauf-Hölle vor.

Klar: Anstrengend ist das auch. Weil 42 Kilometer 42 Kilometer sind. Vielleicht ist so ein Indoor-Lauf ja noch anstrengender. Eben weil er so fad ist. Eine Übung in Demut und Meditation. Ein Versuch, in angewandter Monotonie: Ich bin einmal – bei einem Laktattest – 16 Kilometer auf einer 400m-Bahn gelaufen. Eine Langeweile-Erfahrung , die ich nicht missen will – aber auch nicht wiederholen. Aber: Jeder und jede wie er will.

Foto: Stefan Joham
Foto: Stefan Joham

Drum gratuliere ich natürlich den "hunderten Teilnehmern", die da am Sonntag in der Messehalle den Indoor-Marathon abgespult haben. Und frage nicht nach, wie viele dieser "hunderten Teilnehmer" (laut Veranstalter waren es insgesamt 1.027) tatsächlich alle 20 Runden gelaufen sind – und wie viele sich nur den Halb- oder Viertelmarathon bei Kunstlicht und Kunstluft gaben: Distanzen sind nur Zahlen. Willkürliche Zahlen. Genauso wie Zeiten.

Wobei: Zahlenwillkür ist halt auch ein bissi blöd, wenn man den Leuten einen Marathon verspricht – und sich vermisst. Im Vorjahr war genau das passiert. Der Marathon war zwar Indoor, aber kein Marathon. Das tut dann weh. Vermutlich. Heuer, betonte man auf der Homepage – freilich, ohne auf die Peinlichkeit der Premiere näher einzugehen – sei die Strecke zertifiziert und geprüft gewesen. Man freue sich schon, auch im kommenden Jahr wieder um diese Zeit zu laufen.

Foto: Stefan Joham
Foto: Stefan Joham

In diesem Punkt bin ich mit den Eventmachern absolut eins: Ich freue mich auch jedes Jahr darauf, im Herbst und im Winter zu laufen. Weil das angebliche "Hallenwetter" das mit Abstand genialste Laufwetter ist. Und ich noch niemanden erlebt habe, der nicht dann, wenn man ihn (im richtigen Gewand und im richtigen Tempo) bei Nieselregen, Nebel und Temperaturen wie jetzt durch den Gatsch traben lässt, eines erkennt: Das einzig wahre Fitnesscenter heißt "draußen". (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 18.12.2013)