Das rot-schwarze Regierungsprogramm hat heftige Streitereien über politische Sachfragen ausgelöst. Diskutiert wird über die Budgetpläne von SPÖ/ÖVP sowie den Umgang mit Pensionisten und Universitäten. Weniger Beachtung gefunden hat, dass im Zuge der Regierungsbildung auch eine Debatte über das Wesen der Demokratien ausgebrochen ist.

Konkret geht es um die Frage, welchen Stellenwert der Kompromiss in einer liberalen Gesellschaft hat. Werner Faymann und Michael Spindelegger verteidigten ihr Abkommen mit dem Hinweis, dass "Kompromisse" zum "Wesen" der Demokratie gehören. Bundespräsident Heinz Fischer argumentiert ähnlich: Gefragt nach den Schwächen des Koalitionspapiers, antwortete er in der "ZIB 2" am Montag, es sei schon als Erfolg zu werten, dass Rot und Schwarz sich überhaupt auf ein Programm haben einigen können.

In den STANDARD-Foren und auf Twitter lösten diese Aussagen Kritik aus. In der "Presse" griff Michael Fleischhacker das Thema auf. Er behauptete, dass Kompromisse nicht das Wesen der Demokratie seien - "im Gegenteil: Das Wesen der Demokratie" bestehe in "Mehrheitsentscheidungen", die, sofern sie nicht Minderheitenrechte verletzten, "auch von der unterlegenen Minderheit akzeptiert werden müssen".

Wer aber hat nun recht? Auf der Suche nach Antworten empfiehlt sich ein Blick in die Arbeiten des prominentesten österreichischen Staatstheoretikers Hans Kelsen (1881-1971), der als "Schöpfer" der Bundesverfassung gilt. Kelsen hat sich dem Thema "Kompromiss" in der Demokratie ausführlich gewidmet. Seine klare Meinung: Der Kompromiss liegt nicht nur im Wesen der Demokratie, sondern ist sogar ihr wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zu Autokratien und das wertvollste Gut, das eine Demokratie überhaupt hervorbringen kann.

Kelsen argumentiert, dass gerade die erschreckenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts (Faschismus, Kommunismus) lehren sollten, dass eine absolute Wahrheit darüber, welche menschlichen Moralvorstellungen richtig oder falsch sind, nicht existiert. Denn Diktaturen stellen immer einen Absolutheitsanspruch. Die Sowjetunion etwa sei nicht per se undemokratisch gewesen, argumentierte Kelsen in einer Rede 1919, es gab ja auf vielen Ebenen freie Wahlen.

Was das Regime als autoritär gekennzeichnet habe, sei der Versuch der Kommunisten gewesen, dem Staat bestimmte Ziele (Aufbau des Sozialismus) vorzuschreiben. Im Gegensatz dazu muss der wahre Demokrat anerkennen, dass die Welt nur aus sich widerstreitenden Interessen besteht und dass die Aufgabe des Parlamentarismus es nur sein kann, einen Ausgleich zwischen diesen Interessen zu finden.

Demokratie sei immer Relativismus. "Die Mehrheit bildet nicht nur die Opposition der Minderheit, sie schützt sie und lässt sich von ihr beeinflussen", schreibt Kelsen. "Jede soziale Integration ist letzten Endes nur durch Kompromiss möglich." Der Österreicher erinnert aber auch daran, dass Kompromisse nicht nur das Verhältnis Minderheit/Mehrheit regeln, sondern in einer pluralistischen Gesellschaft eine Mehrheit erst durch eine Einigung zwischen verschiedenen Gruppen zustande kommt. Hier liegt auch Fleischhackers Denkfehler, der vernachlässigt, dass SPÖ und ÖVP die Mehrheit ja nur bilden können, weil sie einen Kompromiss eingehen.

Man kann die Regierung für ihr Programm also kritisieren, so hart man will. Ihre Berufung auf die Notwendigkeit des Kompromisses ist aber demokratiepolitisch völlig legitim. Kelsens Arbeit über Demokratie und Diktatur sollten sich übrigens auch all jene vor Augen führen, die argumentieren, dass Rot und Schwarz die ganz offensichtlich notwendigen Reformen für Österreich nicht vollständig umsetzen. In einer Demokratie kann es so etwas laut Kelsen gar nicht geben. (András Szigetvari, derStandard.at, 17.12.2013)