Den ungarischen Meister der Apokalypse hat Susan Sontag ihn genannt, und ein anderer Meister des Untergangs, W. G. Sebald, verglich ihn mit Gogol und meinte, seine Vision würde die leichtgewichtigeren Ansprüche der zeitgenössischen Literatur bei weitem übertreffen. Und doch ist dieser Autor der Allgemeinheit praktisch unbekannt. Eine Kritikerin schrieb kaum überspitzt: László Krasznahorkai könnte vielleicht der bedeutendste Autor sein, von dem Sie noch nie gehört haben.

In deutschsprachigen Ländern kennt man ihn vor allem als den Autor von Satantango, einem kafkaesken Bericht aus der ungarischen Provinz, der die Verlorenheit und Verdorbenheit spätkommunistischer Zustände allgemeingültig abtanzt. Politisch lesbar war auch der satirisch-melancholische Parforceritt Melancholie des Widerstands (1989), ein weiteres Lehrbeispiel einer Ecriture, die erforscht, was passiert, wenn man mit größtmöglicher Genauigkeit beschreibt. Wie unter einem Elektronenmikroskop zerbricht die kompakte, scheinbar von Vernunft getragene Wirklichkeit und enthüllt ihren Wahnsinn. Geschrieben in den letzten Jahren des alten Systems, liest sich der Roman wie eine Beschreibung heutiger Zustände in Ungarn - und darüber hinaus.

In den 90er-Jahren begann Krasznahorkai zu reisen - nach New York oder Berlin, wo er besser als sonst wo fremd sein kann und noch heute wie einige andere ungarische Künstler immer wieder lebt. 1999 erschien sein wohl erfolgreichstes Buch Krieg und Krieg, die Geschichte eines Manuskripts und seines Bewahrers, eines Bibliothekars aus der ungarischen Provinz, der es auf einer abenteuerlichen Reise nach New York schmuggelt, um es dort ins Internet einzuschleusen, das ihm als die planetarische Bibliothek der Zukunft erscheint.

Im neuen Jahrtausend bereiste Krasznahorkai den Fernen Osten, zuerst China, und, ganz entscheidend für ihn, Japan, besonders die alte Kaiserstadt Kioto. Von den siebzehn Erzählungen in Seiobo auf Erden haben nicht weniger als sechs Japan zum Hintergrund haben, und davon beschäftigen sich wiederum drei mit der wohl am entschiedensten esoterischen Kunstgattung Japans, dem Noh-Theater. Dass alle Erzählungen des Bandes zusammenhängen und aufeinander bezogen sind, deutet Krasznahorkai schon durch die Nummerierung der Erzählungen an, die nicht wie üblich von 1 bis 17 fortläuft, sondern in der sogenannten Fibonacci-Reihe angeführt wird, wo, eins zum andern hinzugezählt, Vielschichtigkeit entsteht: 1-2-3-5-8-13-21-34-55 und so weiter bis 2584.

Worum geht es sonst noch in den Erzählungen? Ein weißer Reiher steht aufmerksam und reglos im Fluss einer um ihn her tosenden Großstadt. Ein Arbeitsloser wird vom Blick russischer Ikonen heimgesucht. Der Ise-Schrein wird wie alle zwanzig Jahre neu gebaut, man begegnet nach etlichen tragikomisch beschriebenen Begegnungen und Abläufen wunderbar genau arbeitenden Handwerkern. Ein Tourist läuft nach einem absurden Besuch der Akropolis mitten in Athen in ein Lastauto. Eine Buddhastatue wird restauriert, und es wird ihr in einem aufwändigen Ritus "der Blick zurückgegeben". Was haben diese Personen, Orte und Situationen miteinander zu tun? Man kann das Buch lesen wie einen Schlüsselroman, wo die Personen bekannt sind, nicht aber ihre Eigenschaften; wo Orte und Hergang ihrer Taten benannt werden, die innere Mechanik aber nur angedeutet wird. Glücklich sind sie eher nicht, obwohl sie von etwas besessen sind. Es sind Künstler, Verrückte oder verrückt Werdende und zugleich die Letzten ihrer Art, bevor der Mensch endgültig verschwindet. Denn das, worauf es im Leben dieser Menschen ankommt, geht rapide unter, nur ferne Zeichen dessen, was einmal ernst und beim Wort genommen wurde, bleiben für die, die noch lesen, zurück.

In der Kultur der europäischen Vergangenheit und in jener des Fernen Ostens finden diese Erzählungen Überreste unmittelbarer Schönheit, wo zwischen dem Alltäglichen und dem Ausnahmehaften keine feste Grenze existiert. Krasznahorkai idealisiert das heutige oder vergangene Europa, Russland oder Japan keineswegs, im Gegenteil, in jeder Erzählung gibt es leitmotivisch scharfe Kontrastierungen zwischen den Bemühungen um die Kunst und einer von ganz anderen Motivationen geleiteten Gesellschaft. Auch vermeidet er es, die Quelle des Bedürfnisses und der Faszination an Kunst eindeutig zu benennen. Wie die meisten anderen Erzählungen in diesem Buch ist auch diese von der Textsorte der sogenannten "Faction": sie geht auf eine konkrete Person zurück und beschreibt doch mehr, als es eine Biografie oder Dokumentation tun dürfte. Es geht um eine, platonisch gesprochen, Idee von ..., die verlorengegangen ist. Man kann sie heute nur mehr erschließen, man kann sie aus ihren Wirkungen - oder eben aus dem Fehlen ihrer Wirkungen - ableiten, ohne den Finger auf ihre Essenz legen zu können. Das Original ist verloren oder unklar, es ist unsicher, was das Original war oder ist - dies ist ein zentrales Thema des Buches.

Dennoch: Seiobo steigt hernieder und erscheint - oder verhüllt sich - in jeder der siebzehn Erzählungen in immer wieder anderer Gestalt, anderen Verläufen, anderen Auswirkungen. Im Falle eines Christusbilds in Venedig wird die Forschungslage ausführlich abgehandelt, doch ob das Gemälde wirklich vom berühmten Bellini ist oder von jemandem anderen, kann nur der Restaurator klären - und doch haben diese Erörterungen, deren Ergebnis die Absurdität der Suche nach einer Antwort ist, mit dem epiphanischen Erlebnis des Menschen, für den sich die Augen von Jesus für einen Moment auftun, was ihn innerlich endgültig ins Abseits verschieben wird, nichts zu tun.

"Seiobo" verkörpert sich oder ist das Arbeitsprinzip genau arbeitender Holzfäller und Handwerker, die den Neubau des Ise-Schreins bewerkstelligen. Mit der Arroganz der Schrein-Bürokratie, die sinnreiche Begegnungen zu verhindern trachtet, oder der Ahnungslosigkeit der Shintopriester hat sie jedoch nichts zu tun. "Seiobo" ist in der allerersten Erzählung die durch nichts zu brechende Aufmerksamkeit eines großen, weißen Reihers - oder ist sie der märchenhafte Vogel selbst? Ist sie in der Aufmerksamkeit dessen, der den Reiher bemerkt? Oder ist es das alles nicht, da Seiobo etwas Unsichtbares, etwas Geistiges ist? Oder hat sie sich nicht längst zurückgezogen, und beide, Reiher wie Zuschauer, sind nur verwundbare Erscheinungen einer Spätzeit? Während sich solche Fragen einstellen und als Bedingung des Fragens gleitet der, ja, wunderbare Text dahin, sinnlich und philosophisch, als wäre er selbst, vielleicht, "Seiobo".

Es sind die diversen Heimsuchungen durch das Außerordentliche, was diese Erzählungen so spannend macht, dass man sie unweigerlich nach Hinweisen absucht, nach etwas, an das man sich halten könnte, da man sonst, wie man immer stärker spürt, so wie manche der Protagonisten ins Bodenlose stürzen könnte, in ein Gescheitertsein, das nichts anderes als die Haltlosigkeit unserer Zivilisationszeit selbst ist.

Vor allem aber ist es der Stil, das rhythmisch gegliederte Fließen der lange dahinmäandernden Sätze, die oft mehrere Seiten lang sind, was eine ungeheuer suggestive Wirkung ausübt. Krasznahorkai hat die Länge seiner Sätze immer wieder damit begründet, dass ihm kurze Sätze unnatürlich erschienen und dass man, wenn man den Leuten nur aufmerksam zuhörte, bemerken müsse, dass wir alle in langen, sich nicht abschließen wollenden Texten sprechen, im heißen Wunsch, uns mitzuteilen. Er selbst jedoch wäre in diesen Texten vollkommen schweigsam, was hier spräche, wären die jeweiligen Personen, die sich eben aussprechen wollten. Er sei nur das Medium, durch das sie in Erscheinung träten.

Dabei gibt es oftmals einen Wechsel zwischen einer jeweils individuellen Perspektive und einer mehr allgemeinen, also einen unvorhersehbaren Shift, der eine destabilisierende Wirkung ausübt. Krasznahorkai behauptet, dass es hinter den einzelnen Stimmen seiner Erzählfiguren noch eine tiefere Schicht gäbe, quasi noch einen "wirklichen" Sprecher, der das Ganze vortrüge, und den kenne er nicht wirklich, aber er folge ihm beim Schreiben. So wahnwitzig dies klingen mag, die Musik dieser Texte vermittelt genau dieselbe Vielstimmigkeit aus geschwätzigen Oberstimmen und einem fast unhörbaren und trotzdem eigentümlich präsenten Basso continuo. Die Musik von Seiobo auf Erden ist polyphon. Nur manchmal, an wenigen Stellen, die sich aus dem Zusammenspiel der Stimmen ergeben, erzeugt sie auf einmal - und natürlich nur für einen Moment - einen hinreißenden Klang, der nach tonaler Harmonie, die klarerweise abwesend sein muss, duftet. (Diethard Leopold, Album, DER STANDARD, 4./5/6.1.2014)