Ein schmissiger Blonder als Wortführer einer Schulklasse. Gegen die Verrohung hilft auch der Ausflug zur KZ-Gedenkstätte nicht.

Foto: Thimfilm

Wien – Nachdem er seine Klasse während eines Ausflugs verlassen hat, findet sich einer der Schüler allein auf einem Feldweg wieder. Ziellos streift er durch die Gegend, bis ihm ein wunderschön glänzender Hirschkäfer begegnet. Er sei auf der Flucht, erzählt er dem Insekt, in dem er einen Seelenverwandten zu erkennen glaubt. Doch im Gegensatz zu dem Ausreißer im Schuluniform weiß das eilig davonkrabbelnde Tier scheinbar ganz genau, worum es beim Weglaufen geht: Man braucht ein Ziel.

Diese Szene, mit der Finsterworld auf sein Ende zusteuert, ist paradigmatisch fürs Spielfilmdebüt der deutschen Regisseurin Frauke Finsterwalder. Jede der fünf Episoden, die Finsterwalder und ihr Koautor Christian Kracht (Imperium) – selbstverständlich kunstvoll – miteinander verbinden, handelt von einem Akt der Selbstfindung angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt, die hier Deutschland heißt.

Ein Einsiedler (Johannes Krisch) wird in seinem Waldunterschlupf von der gewalttätigen Zivilisation eingeholt; ein Fußpfleger (Michael Maertens) genießt seine Besuche bei einer alten Dame (die großartige Fassbinder-Schauspielerin Margit Carstensen) im Pensionistenheim; eine Dokumentarfilmerin (Sandra Hüller) verzweifelt an ihrem TV-Porträt über einen dauerfernsehenden Arbeitslosen; ein versnobtes Ehepaar (Corinna Harfouch, Bernhard Schütz) flieht aus der verhassten Heimat nach Frankreich; und eine Schülergruppe, in der ein schmissiger Blonder den Anführer gibt, fährt gelangweilt zu einer KZ-Gedenkstätte.

Souverän fächert Finsterwalder die Episoden auf, um sie auf die große Tragödie hin kollidieren zu lassen. Doch die Betrachtung einzelner Teile bedeutet noch lange keine neue Sichtweise aufs Ganze. Indem sich die Erzählung über verschiedene Gesellschaftsschichten und viele Generationen erstreckt, lässt Finsterworld überdeutlich sein Anliegen erkennen: eine psychosoziale Bestandsaufnahme Deutschlands zu sein. Das Ergebnis sind Bilder einer albtraumhaft anmutenden Welt, in der die Menschen keine Vergangenheit und keine Zukunft besitzen, sondern aus der Zeit gefallen sind, weil sie sich von der Realität längst entfremdet haben.

Finsterworld wirkt wie ein ausgestellt künstlicher Bilderbogen, dem die eigene schillernde Oberfläche genügt und in dem krankhaftes Keksebacken ebenso seinen Platz findet wie die hohle Kritik am Umgang mit der Nazivergangenheit. Ein Besuch im ehemaligen Konzentrationslager hilft der verrohten Jugend längst nicht mehr, so die Diagnose, und wenn die Fernsehregisseurin Antonioni und Haneke bewundert, schwärmt sie von einem Blick auf eine Wirklichkeit, die sie in Wahrheit so wenig interessiert wie ihr Freund. Der verkleidet sich als Plüschbär, um sich in seiner Haut endlich wohlzufühlen. (Michael Pekler, DER STANDARD, 10.1.2014)