Berlin – "Ernährung ist nicht nur Privatsache", das ist der erste Satz des neuen Fleischatlas. Sie habe konkrete Auswirkungen auf das Leben der Menschen in allen Ländern, auf die Umwelt, die biologische Vielfalt und das Klima, schreiben die Organisationen Heinrich-Böll-Stiftung, die Umweltorganisation Bund und Le Monde Diplomatique. Prognosen zeigen, dass die weltweite Fleischproduktion von heute 300 Millionen auf 470 Millionen Tonnen im Jahr 2050 erhöht werden muss.

Das liege vor allem an der steigenden Nachfrage in asiatischen Ländern, wie zum Beispiel in China und Indien. Demnach werden bis 2022 rund 80 Prozent des Wachstums im Fleischsektor auf die "zumeist asiatischen Boomländer" entfallen. Auch in Brasilien und Südafrika, die zusammen mit Russland, Indien und China die sogenannten BRICS-Staaten bilden, steigt die Nachfrage stetig.

Weltweite Schlachtungen: Milliarden Tiere pro Jahr
Grafik: The Statistics Division of the FAO (FAOSTAT)
grafik: FAOSTAT

In den Schlachthöfen der Welt

Das Schlachten von Tieren ist heute hoch industrialisiert. In den USA schlachten zum Beispiel nur zehn Konzerne 88 Prozent aller Schweine. Die US-Gesellschaft Tyson Foods, die nach JBS aus Brasilien das zweitgrößte Fleischunternehmen der Welt ist, schlachtet 42 Millionen Hühner, 170.000 Rinder und 350.000 Schweine pro Woche. Weltweit arbeiten mehrere Millionen Menschen in Schlachthöfen, genaue Zahlen sind nicht bekannt. Billigfleisch entstehe eben auch durch die Dumpinglöhne dieser Arbeiter auf den Schlachthöfen, kritisieren die Organisationen im Fleischatlas.

Doch auch Konsumenten würden keine Verbindung mehr zwischen einem lebenden Tier und einem eingeschweißten Filet herstellen. Früher war der Tod der Schlachttiere sichtbar, hörbar und riechbar. Heute werden in den meisten Industrieländern die Schlachthöfe aus den urbanen Zentren in die rurale Peripherie verlagert. "Schlachtung und Schlachter bleiben für den Konsumenten unsichtbar", heißt es im Fleischatlas.

Schlachtungen in Deutschland, Zahlen aus dem Jahr 2012.
Grafik: Statistisches Bundesamt (Destatis)
Grafik: DESTATIS

Unerwünschte Nebeneffekte

Deutschland steht bei der Schweineschlachtung mit über 58 Millionen getöteten Tieren pro Jahr auf Platz 1 der europäischen Spitzenproduzenten. Die industrialisierte Massenschlachtung hat in fast allen Ländern unerwünschte Nebeneffekte wie Lebensmittelskandale, Missbrauch von Antibiotika sowie Einsatz von Hormonen.

Hormone beeinflussen unmittelbar das Zellwachstum und die Gewichtszunahme. Die Leistung von Milchkühen kann dadurch um 15 bis 30 Prozent gesteigert werden. Das Wachstum bei Rindern, Schweinen und Schafen kann um acht bis 38 Prozent steigen. Die Autoren des Fleischatlas nennen einige Nebenwirkungen für die Tiere: Hyperaktivität, Herzrasen, Spontantode.

Hormoncocktail in Fleisch

Vor allem Wachstumshormone wie Ractopamin sind global umstritten. Sie erlangten im Jahr 2010 Berühmtheit, als in China Mädchen im Säuglingsalter, die alle das gleiche Milchpulver erhalten hatten, Brustwachstum aufwiesen. Ärzte brachten Milchpulver von hormonbehandelten Kühen damit in Verbindung. Krebsforscher warnen vor Wachstums- bzw. Masthormonen, weil sie als krebsfördernd und erbgutschädigend gelten. In vielen Ländern wie China, Russland, Indien und der Türkei ist Ractopamin daher verboten. Der EU-Markt ist seit 1988 unzugänglich für Hormonfleisch. Dabei sind in der EU übrigens nur Wachstums-, nicht aber Sexualhormone verboten.

Doch der Widerstand ist groß: Sowohl global agierende Pharmafirmen als auch amerikanische Fleischexportfirmen wollen Handelshemmnisse für Hormonfleisch abbauen. Vor dem Hintergrund der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA warnt der Bericht auch vor dem Import von hormonbehandeltem Fleisch. Ein solches Abkommen könne "drastische Änderungen" beim Einsatz von Antibiotika und bei der Zulassung von genetisch veränderten Organismen bedeuten, heißt es. Es müsse verhindert werden, dass die hohen Standards für Lebensmittel in der EU durch das Abkommen "aufgeweicht" werden, erklärte der BUND.

Die Hormone können die Menschen nicht nur über das Fleisch erreichen, denn die Nutztiere scheiden 85 Prozent der Wirkstoffe wieder aus, wie der Fleischatlas berichtet: "Die Technik bietet keine Hilfe: Kläranlagen halten die meisten Stoffe nicht auf."

Auswirkungen auf die Umwelt

Der Bericht warnt in diesem Zusammenhang außerdem vor einem enorm wachsenden Flächenverbrauch für Futtermittel. Um den erwarteten Konsum zu stillen, müsse sich allein die Produktion von Sojabohnen von derzeit 260 auf weltweit 515 Millionen Tonnen fast verdoppeln, heißt es. Es sei derzeit "nicht abzusehen", wie all die Tiere in den entstehenden Massentierhaltungsbetrieben ernährt werden sollen, kritisiert der Bericht.

Die EU lässt wachsen – Soja-Anbauflächen, die im Ausland "eingekauft" werden.
Grafik: WWF
Grafik: WWF

Die BUND-Agrarexpertin Reinhild Benning warnte ihrerseits vor den negativen Folgen einer drastisch höheren Fleischproduktion für die Umwelt. Demnach werden mittlerweile "70 Prozent aller Agrarflächen der Erde" von der Tierfütterung beansprucht. Das habe fatale Folgen für Regenwälder, Böden und Gewässer, etwa durch die Belastung mit Pestiziden. Außerdem würden die Preise für Grundnahrungsmittel wegen knapper werdender Agrarflächen steigen.

"Jahr der Entscheidung"

Die deutsche Grünen-Fraktion sprach vor diesem Hintergrund von einem "Jahr der Entscheidung für zahlreiche hart erkämpfte Lebensmittelstandards" in der EU. Mit dem Abkommen bestehe die Gefahr von "gechlortem Hühnchenfleisch, Wachstumshormonen im Fleisch und nicht gekennzeichneten gentechnisch veränderten Lebensmitteln", warnten die verbraucher- und tierschutzpolitische Sprecherin Nicole Maisch und der agrarpolitische Sprecher Friedrich Ostendorff. Wichtig sei eine stärkere Förderung der regionalen nachhaltigen Landwirtschaft. (jus/APA, derStandard.at, 10.1.2014)