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Frauen demonstrieren für Abtreibung.

Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Sie wünschte, ihre Mutter hätte ihre Schwester abgetrieben. Und ihre vier Brüder gleich dazu. Sie selbst natürlich nicht. Sie selbst war das einzige Wunschkind von sechs Kindern. Was noch nicht heißt, dass sie als Einzelkind ihre ab dreiundzwanzig Jahren alleinerziehende, Kleiderspenden, Lebensmittelpakete und Sozialhilfe beziehende Mutter nicht unglücklich gemacht hätte mit ihrer bloßen Anwesenheit. Als sie neun war, wurde ihre 31-jährige Mutter zum vierten Mal schwanger. Die Mutter sagte zur Tochter - sie standen im Badezimmer, sie erinnert sich genau -, sie werde es wohl abtreiben lassen. Die Tochter fragte die Mutter - sie freute sich über das neue Geschwisterchen, sie erinnert sich genau -, was Abtreiben ist. Die Mutter sagte, was Abtreiben ist. Die Tochter war (zu Recht) schockiert, denn im Bauch der Mutter war doch ein Kind, vielleicht endlich eine Schwester, und außerdem vor Jahren noch sie selbst, und das war ein mulmiges Gefühl. Sie weinte, flehte. Die Mutter möge das Kind doch behalten. Die Mutter könne das Kind doch nicht töten. Töten (das hatte sie gelernt) tut man nicht. Und sie sagte Kind, weil ihre neunjährige Weltwahrnehmung sich den Embryo nicht anders denken konnte als fertig und süß. Von einer befruchteten Eizelle, die sich erst einnisten muss, wusste sie nichts. Von ökonomischem Halsabschnüren wusste sie bloß, dass die Teller manchmal leer blieben. Und die Vorstellung, irgendwann erwachsen zu sein, eine Frau, mit dem legitimen Wunsch nach einem glücklichen, eigenen Leben, auch abseits von Mutterschaft, war ihr zu abstrakt.

Die Frau, das Wrack

Die Mutter trieb nicht ab. Die Tochter bekam eine Schwester. Und bald darauf zwei weitere Brüder. Die Tochter musste (weil Frau und noch gefangen in der ihr von der Gesellschaft zugedachten Rolle) bereits früh auf ihre Baby-Geschwister aufpassen, was sie oft überforderte, mit vielen Folgen (eine sich überschlagende Stimme, eine ausschlagende Hand), aber das gehörte so, das hatte sie bei der Mutter gesehen, dass das normal war, laut zu sein und wütend ("Lasst mich einmal in Frieden!" , "Schleicht euch!", "Ich hätte euch in der Gosse liegen lassen können!" ), aber traurig machte das manchmal auch. Mit fünfzehn im Polytechnikum bekam die Tochter (in politischer Bildung!) einen Film zu sehen: Abtreibungen machten Frauen zu psychischen Wracks, seien außerdem böse, sehr böse, quasi "Myriam, warum weinst du?". Zuvor - ein paar Jahre vor ihrem Kirchenaustritt - hatte die Tochter die heilige Firmung empfangen, durch Bischof Klaus Küng. Nein, religiös war ihre Familie nie gewesen, aber das gehörte sich so. "Wir bitten dich, Herr, sende ihnen den Heiligen Geist, den Beistand." Doch der Beistand für die Mutter war nie gekommen. Alimente und Sozialhilfe waren zu wenig, der Kinder waren es zu viele. Psychische Wracks ganz ohne Abtreibung.

Der Rat, das Geld, die Klinik

Die Mutter hätte nicht auf die Tochter hören sollen, war doch die kindliche Tochter ohnehin nie die Richtige für einen erwachsenen Rat gewesen. Die Tochter hatte nicht gewusst, dass der Bauch der Mutter niemandem zu gehören hat als der Frau Mutter selbst. Vielleicht fehlte es aber auch am selbst zu bewerkstelligenden Geld und an der Möglichkeit, die (vor allem auf dem Land rar gesäten) Kliniken, die Abtreibungen überhaupt vornehmen, zu erreichen, was beides sehr wahrscheinlich ist. Der Rat, das Geld, die Klinik jedenfalls hatten die Mutter für ihr Leben unglücklich gemacht, zu lachen hatte(n) sie selten etwas gehabt. Und die Tochter hatte für ihr Leben gelernt: dass sie, die Kinder prinzipiell mag, ja sogar toll findet, ganz großartig, erst welche bekommt, wenn sie sich sicher sein kann, dass sie das Kind schon schaukeln wird. Oder vielleicht auch nie welche bekommen will, wer weiß. Und dann passierte es: Die Regel blieb aus, sie wartete eine erbärmliche Woche, und die Tochter, mittlerweile selbst eine Frau über dreißig, wollte und konnte (noch) kein Kind bekommen. Also dachte sie - weil versuch mal, nicht an einen rosaroten Elefanten zu denken - inmitten dieser Befürchtung einer ungeplanten Befruchtung an nichts anderes als an ein Kind, dem sie neun Monate lang ihren Körper zur Verfügung stellen müsste, für das sie mindestens achtzehn Jahre lang zeitliche, emotionale und finanzielle Betreuung übernehmen sollte.

Regelblut ist gutes Blut

Die eine Freundin (keine Kinder) sagte: "Scheiße! Aber du wirst doch nicht abtreiben ..." Dieses gesellschaftlich immer noch aufrechterhaltene Tabu empfand sie als moralisierende Zurechtweisung, als übergriffig, und sie musste kurz an die Bekannte denken, die nach einer Vergewaltigung in eine Klosterschule verbannt worden war. Die andere Freundin (zwei geliebte Kinder) sagte: "Ich stehe gerne zur Verfügung, um mit dir zu trinken, glaub mir, viel Alkohol so früh, das halten die paar Zellen gar nicht aus." Endlich kam es, das ersehnte Regelblut, und Regelblut ist gutes Blut, vor allem, wenn eine Frau kein Kind haben will. Abgetrieben hätte sie natürlich trotzdem, womöglich mit einem kurz traurigen Gefühl, weil sie Kinder prinzipiell mag, aber dennoch guten Gewissens, ohne Wrack, ohne Schuldgefühle, innerhalb der sogenannten Fristenlösung von drei Monaten, die laut § 97 StGB (also zu Recht) straflos ist seit deren Beschluss 1973. Und die Klaus Küng am vierzigsten Jahrestag in einem Gastkommentar in der Presse als "niemals eine Lösung" bezeichnete, denn es gebe "Jubiläen, die sollte man nicht feiern".

Die Tochter der Mutter ließ daraufhin einen Sektkorken knallen und trank erstens auf die Lösung und zweitens auf die Säkularisierung, denn Küng beklagte weiters, "die Kirche kann den Gesetzgeber nicht zwingen (...), aber sie darf nicht aufgeben", nicht ohne zuvor für eine gesetzlich vorgeschriebene Wartefrist vor Durchführung der Abtreibung zu plädieren, denn, so Küng, er wäre überzeugt, dass die meisten Frauen sich dazu entschlössen, sich "letztlich doch für das Kind zu entscheiden", denn "keine Frau will im tiefsten Inneren ihr Kind abtreiben".

Das tiefste Innere der Frau

Küng kann das nicht wissen, aber das tiefste Innere der Tochter der Mutter ist kein Kind. Die Tochter der Mutter könnte sogar ganz gut ohne Kind leben, oder mit Pflegekind - oder überhaupt als vielgebuchte weltbeste Flugzeugmechanikerin, die gar keine Zeit für ein Kind finden will. Und das darf sie nicht bloß deshalb sagen, weil sie einst von Küng gefirmt wurde, sondern vor allem als Frau, die für Selbstbestimmung ist, für die eigene Körperhoheit, eine, die auch ohne bevormundende Wartezeit gewartet hätte (weil eine Abtreibung kaum je eine überstürzte Handlung ist), aber zu keinem anderen Ergebnis als Schwangerschaftsabbruch gekommen wäre, und die außerdem der Meinung ist, dass das Wort "Kind" jedenfalls im ersten Stadium einer Schwangerschaft eine strategisch eingesetzte, falsche Definition ist, die auf Mission abzielt. Es soll im Vorhinein herstellen, was bloß im Nachhinein zu denken möglich wäre. Natürlich bestünde auch die geringe Möglichkeit, dass der Tochter das Hirn vernebelt wurde. Von ihrer derzeitigen Lektüre über nur durch ihre Tat zur Gesellschaft sprechende Kindsmörderinnen (aller Jahrhunderte bis heute) und Berichten der WHO (World Health Organization), die besagen, dass restriktive Abtreibungsgesetze und -verbote bloß dazu führen, dass die Abbrüche (illegalisiert) dennoch stattfinden, jedoch unter für die Frau lebensgefährlichen, medizinisch unsachgemäßen Bedingungen. Dass verabsäumt wurde, dem Anti-Abtreibungs-Kommentar von Bischof Küng fairer- und realerweise einen Pro-Abtreibungs-Kommentar gegenüberzustellen, sei hiermit korrigiert. Und eines Tages wird die Tochter außerdem ihre Autobiografie schreiben - und die Biografie ihrer Mutter gleich dazu, denn in Wirklichkeit ist sie gar keine Flugzeugmechanikerin. Aber bis es so weit ist, frage ich mich, ob die Mutter der Tochter glücklich hätte sein können, und weiß doch bereits die Antwort: Ja, Amen. (Nadine Kegele, Album, DER STANDARD, 11./12.1.2014)