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Das Parlamentsgebäude in Straßburg.

Foto: APA/dpa/Haid

Warum leistet sich die Europäische Union den "Luxus", zwei Parlamentsgebäude zu haben - eines in Straßburg und eines in Brüssel? Wie kann es in Krisenzeiten sein, dass (derzeit) 766 EU-Abgeordnete einmal im Monat für eine Woche nach Straßburg zu den Plenartagungen reisen, zwölfmal im Jahr? Das verursacht nach Schätzungen der Kritiker rund 200 Millionen Euro Zusatzkosten pro Jahr, was Befürworter für weit übertrieben halten. Diese Fragen bewegen seit rund zehn Jahren vor allem einen Großteil der Abgeordneten selber, denen der "Wanderzirkus" zwischen ihren Büros in den genannten Städten und in ihren Herkunftsländern auf die Nerven geht.

Die "Sitzfrage" wird unter dem Prätext "Verschwendung von Steuergeld" oder "EU-Wahnsinn" - je nach Temperament – sicher auch im kommenden Europawahlkampf eine Rolle spielen. Für EU-Skeptiker ist das Thema Missbrauch bzw. Verprassen von EU-Mitteln ein Fressen. Schließlich rücken die EU-Parlamentarier aller Fraktionen und die fraktionslosen Mandatare das Thema regelmäßig selber in den Vordergrund. Erst im vergangenen Herbst stimmten gut zwei Drittel der Abgeordneten einer Resolution zu, wonach die Abgeordneten selber bestimmen können sollen, wo ihr Parlament tagt.

Ziel der Aktion, die ursprünglich von britischen Abgeordneten als "single seat initiative" ausging und inzwischen quer durch alle Fraktionen Zustimmung findet: Straßburg soll zugunsten Brüssels als Tagungsort aufgegeben werden. Das ist aber aufgrund der geltenden EU-Verträge nicht so einfach. Darin sind die Sitzorte der EU-Institutionen festgelegt, von den nationalen Regierungen beschlossen, den nationalen Parlamenten ratifiziert.

Das kann von den Mitgliedstaaten durch Reform der EU-Verträge aber wieder nur einstimmig geändert werden, so wie der Budgetrahmen oder Steuerthemen auch. Naturgemäß wehrt sich jedes Land, das prestige- und umsatzträchtige EU-Einrichtungen hat, gegen solche Verschiebungen. Im Falle von Straßburg und EU-Parlament ist das Frankreich bzw. die französische Regierung. In praktisch allen EU-Staten gibt es EU-Institutionen, große wie kleine - sei es die Menschenrechtsagentur in Wien, die Umweltagentur in Kopenhagen oder das europäische Patentamt in München.

Was ist nun der Hintergrund, warum es überhaupt zwei Plenarorte gibt? Der Grund liegt in der Vergangenheit, ist eng mit der Geschichte der Union und ihrem schrittweisen Aufbau verknüpft.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten zaghaften Versuche einer Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich unternommen wurden, kam man rasch auf die zwischen ihnen liegenden Benelux-Staaten als Orte des Zusammentreffens. 1952 wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet, ein Vorläufer von EWG, EG und EU. Man wollte die kriegswichtige Industrie eng verzahnen, um künftige Waffengänge auszuschließen. Sitz der EGKS war Luxemburg, wo sich die Montankommission als „Hohe Behörde", Vorläufer der EU-Kommission, etablierte. Brüssel als EU-Ort gab es damals nicht, ebenso wenig wie ein Europaparlament mit gewählten Abgeordneten als solches.

Aber es gab bereits den Europarat in Straßburg, der traditionellen "Europastadt" am Rhein, wo heute auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angesiedelt ist. Der Europarat wurde gleich nach dem Krieg gegründet. Für diesen wurde ein großes Kongressgebäude errichtet. Als 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ins Leben gerufen wurde (von sechs Gründerstaaten in Rom) und später eine Delegiertenversammlung eingerichtet wurde (als Vorläufer des EU-Parlaments), suchte man dafür einen Platz. Straßburg bot sich an. Das "EU-Parlament" zog in die Räumlichkeiten des Europarates ein, nicht zuletzt weil es dort einen Übersetzerdienst gab.

So startete der "Wanderzirkus" des EU-Parlaments . Die Gemeinschaft wuchs, so auch die Zahl der Abgeordneten. 1979 wurde die Direktwahl der Mandatare eingeführt, bei damals neun Mitgliedsländern (noch ohne Griechenland, das 1981 dazukam, oder Spanien und Portugal, die 1986 der EWG beitraten).

Gleichzeitig hatte sich Brüssel inzwischen längst als Sitz der Kommission etabliert (wie auch der Nato, die ursprünglich ihr Hauptquartier in Paris hatte. Man begann dort, ein eigenes EG-Parlament aufzubauen, wo die Abgeordneten Büros hatten, wo Ausschusssitzungen stattfanden und auch Mini-Plenarsitzungen.

Als mit dem Vertrag von Maastricht 1991 der nächste große Schritt der Integration mit der Währungsunion vereinbart wurde, überlegte man auch die Institutionenfrage neu. Sitz der mächtigen Europäischen Zentralbank sollte Frankfurt werden (worauf Deutschland bestand). Frankreich bekam im Gegenzug die Zusicherung, dass das EU-Parlament fix in Straßburg bleibe. Staatspräsident François Mitterrrand gab den Auftrag, für knapp 457 Millionen Euro aus der französischen Staatskasse einen nagelheuen schicken Neubau an das Ufer der Ill in Straßburg zu setzen, im neuen Europaviertel.

Als das EU-Parlament im Juli 1999 kurz nach den Europawahlen offiziell eröffnet wurde, waren die EU-Abgeordneten noch mächtig stolz, ein eigenes, platzmäßig endlich entsprechendes Gebäude zu haben. Das Parlamentsgebäude in Brüssel platzte damals nämlich aus allen Nähten. Die Abgeordnetenbüros waren winzige Notbüros. Die Plenarwoche in Straßburg dauerte fünf Tage lang. Die gesamte EU-Kommission hatte dort anzutreten, die reguläre Sitzung des Kollegiums findet bis heute in der Plenarwoche in Straßburg statt. Die Parlamentarier freuten sich über den Zuwachs an Bedeutung und Mitsprache.

In nur zehn Jahren hat sich die Stimmung diesbezüglich ins Gegenteil verkehrt, angefeuert von der Wirtschaftskrise. Vielen Abgeordneten ist es schlicht zu mühsam, neben Brüssel auch noch nach Straßburg anreisen zu müssen. Sie verfügen nun in Brüssel über großzügige Parlamentsräumlichkeiten, bzw. viele haben sich dort eine Wohnung gemietet oder gekauft, weil Ausschusssitzungen unter anderem in der EU-Hauptstadt stattfinden. Die Sitzungswoche in Straßburg wurde auch von Montag bis Donnerstagmittag abgekürzt.

Wie geht es nun weiter mit dem Doppelsitz? Besteht eine realistische Chance auf Änderung? Derzeit kaum, denn die französische Regierung legt sich quer. In Paris argumentiert man auch damit, dass dann über alle EU-Institutionen geredet werden müsse. Das würde vor allem auch Luxemburg treffen, wo es viele EU-Einrichtungen gibt wie den Europäischen Gerichtshof oder den Rechnungshof. Sitzungen des Ministerrates finden in drei Monaten des Jahres in Luxemburg statt. Auch ein Teil der Verwaltung des EU-Parlaments ist dort angesiedelt (im dritten Sitz sozusagen).

Sollte die Union in den kommenden Jahren eine größere EU-Vertragsreform starten, wonach es derzeit nicht aussieht, könnte das Thema der EU-Institutionen jedoch auf die Tagesordnung kommen. Es ist ein passables Mittel, um sich die Zustimmung zu politischen Reformen abkaufen zu lassen. So war das zum Beispiel im Jahr 2000, als der belgische Premierminister Guy Verhofstadt den Reformvertrag von Nizza lange blockierte, weil ihm die Reformen zu schwach waren. Man bot ihm an, dass EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs künftig nicht mehr in den EU-Vorsitzländern, sondern in Brüssel stattfinden würden – allen Bedenken einer Zentralisierung der EU, einer "Washingtonisierung" in Brüssel zum Trotz. Der Belgier griff damals sofort zu. Das neue Ratsgebäude für die Regierungschefs  soll 2016 eröffnet werden. (derStandard.at, 10.1.2014)