Low-Light-Fotografie als Lichtblick in der Wirtschaftskrise: Das eigene Hobby zum touristischen Angebot zu machen ist die Strategie eines spanischen Webportals.

Foto: DER STANDARD/Jaime Salmo

"Wir zeigen Ihnen Mallorcas unbekannte Seiten" - so steht's in Reisekatalogen. Aber der Mallorquiner Jaime Salom lotst Neugierige wirklich zu recht ungewöhnlichen Zeiten an ungewöhnliche Orte. Unser Weg beginnt in Palma. Gute 30 Kilometer verläuft er an der Steilküste in Richtung Nordwesten und wird dann zu einer der Buchten hinunterführen, wo einst Schmuggler ihre Ware löschten. In der Stadt herrscht noch Berufsverkehr, ein paar Kilometer außerhalb ist weit und breit kein Auto mehr zu sehen. In der Dämmerung durchqueren wir Mallorcas Berge auf einsamen Straßen - mit einem völlig Unbekannten.

Möglich macht das ein - zumindest in Mitteleuropa - kaum bekanntes Webportal: Trip4Real heißt es und verspricht Spanienurlaubern "echte Erlebnisse". In unserem Fall wird das eine Art Fotokurs in der Nacht an der Westküste sein, an einem der wenigen Orte auf der Insel, wo die Sterne noch ungetrübt leuchten.

Ein Klick zum Freund auf Zeit

Salom ist Hobbyfotograf. Und nur einer von rund einem Dutzend Mallorquinern, die auf dem neuen Portal ihr Hobby und ihre Insel teilen: Vier Stunden mit ihm kosten 45 Euro pro Person. Landesweit kann man bereits mehr als 50 spanische Städte und Regionen mit solchen "Freunden auf Zeit" entdecken. Ein Klick, eine Überweisung, ein paar Kurznachrichten, und schon geht es los. Bei Trip4Real soll man gewissermaßen touristische Treffsicherheit kaufen können: keine verschlossenen Museumstüren, kein mühsames Herumfragen, keine Touri-Fallen. Anbieter und Kunden sollten dafür bloß eine Affinität oder eine Form von Lebensstil teilen.

Die Gründerin des Portals, Gloria Molins, will "Reisenden kollaborativen Konsum bieten, Erlebnisse, bei denen sie tief in den Ort eintauchen und ganz nah dran sind", wie sie sagt. Auf der Seite im Netz weht der Hauch des Privaten, digitale Vertrautheit macht sich beim Klicken breit. Wildfremde Menschen bieten Selbstgemachtes an, hinterlassen Kommentare und duzen sich.

Das ist Do-it-yourself-Tourismus, gehäkelte Trips durch Stadt und Land: mit Martiño durchs galicische Hinterland wandern und vegetarisch essen, mit Cristina auf Vintage-Shoppingtour gehen in Oviedo und Gijón, mit Alfonso auf dem Motorrad durch Kastilien fahren oder mit Alberto die Korbflechter von La Mancha besuchen.

Ferran Adrià als Fürsprecher 

Immer wieder sind Kochevents, Weinverkostungen und Tapas-Routen unter den selbstgestrickten Angeboten. Der Unterschied zu Reiseführern oder Agenturen? Er liegt weniger im Programm als vielmehr bei den handelnden Menschen. Sie sind keine Profis, sondern Locals mit Leidenschaft. Und ihren Fürsprecher kennt man: Es ist Ferran Adrià, einer der einflussreichsten Köche der Gegenwart.

In einer Videobotschaft im Netz ermuntert der Sternekoch Landsleute zum Mitmachen: "Trip4Real sucht 1.000 Mikrounternehmer, hast du eine gute Idee?", fragt der schwerreiche Unternehmer im schwarzen T-Shirt mit dem Vorsatz sie finanziell dabei zu unterstützten. Sechs Millionen Arbeitslose, 170.000 Zwangsräumungen, mehr als vier Millionen Haushalte unter der Armutsgrenze. "Die Zeiten sind hart", räumt Adrià ein, "aber wenn du glücklich bist mit dem, was du machst, und dieses Gefühl mit anderen teilst, dann wirst du erfolgreich". Adrià unterstützt die Idee auch, weil er findet, dass den Spaniern Unternehmergeist und Kreativität fehlt. Eigenschaften, die ihn selbst auszeichnen.

Weil er als Jugendlicher in einem Lokal seine Zeche nicht bezahlen konnte, wusch er dort Teller und schnupperte Küchenluft. Heute ist er mehr als ein Koch, er gilt als Innovator, und sein Beispiel wird an Business-Schulen erklärt. Nach dem Stress im weltberühmten Restaurant El Bulli hält Adrià nun Vorträge in Harvard. Und noch heuer will er eine Stiftung gründen, in der er anderen das Kochen beibringt und Gästen das Ergebnis vorsetzt - ohne Reservierung und Pomp.

Gemeinsames Kochen zuhause

Bei Trip4Real bietet Yves Nicolier bereits etwas Ähnliches an: gemeinsames Kochen bei ihm zu Hause. Der 37-jährige Schweizer kam als Kind mit seiner Mutter aus Zürich nach Barcelona, "und weil die immer nur Schweizer Essen kochte, fing ich mit neun Jahren an, Tortillas zu braten", sagt er.

Bis vor ein paar Jahren hatte er eine Consultingfirma für Onlinemarketing. Dann kam sein Sohn zur Welt, und ihm wurde klar, "dass ich die ganze Zeit über das Falsche getan hatte". Für ihn ist Kochen Meditation und ein soziales Event zugleich. Wer ihn bucht, bekommt eine Schürze, ein Messer und ein Brettchen und kann unter anderem lernen, wie Katalanen Hummersuppe machen.

Nicolier und Salom sind umgängliche, flexible Menschen, die das Webportal nutzen, um mit ihren Hobbys etwas Geld zu verdienen. Ihr Auskommen haben sie anderweitig. Salom betreibt eine kleine Druckerei in Palma. Bucht jemand sein Angebot, nimmt er sich den Nachmittag frei. "Die Fotografie ist für mich ein Vorwand rauszukommen", sagt er, "bei klarem Himmel und Neumond verschwinde ich am liebsten in der Dämmerung."

Felsenzeichnung aus Licht

Als wir auf dem Parkplatz der Bucht ankommen, sind wir schon warm miteinander geworden. Die Sonne ist gerade im Meer versunken. Salom nimmt die Kameratasche und das Stativ, setzt eine Stirnlampe auf. Seiner Begleiterin, die ihn für den Crashkurs in Low-Light-Fotografie gebucht hat, drückt er eine 70 Euro teure Taschenlampe in die Hand - "zum Felsenanmalen", wie er erklärt. Auf dem kurzen Weg in die menschenleere Bucht hören wir in den wilden Olivenbäumen die letzten Drosseln zwitschern. Bald ist es stockdunkel. Das Meer rauscht und gurgelt. Die ersten Sterne tauchen auf - unser Moment.

Wir platzieren das Stativ am steinigen Ufer. Salom stellt mit angeknipster Stirnlampe die Kamera ein, achtet auf Blende, Lichtempfindlichkeit und Bildausschnitt. Wir machen ein paar Probefotos. Auf dem Display des Apparats ist nur Schwarz zu sehen. Salom bittet darum, die Felsen auf der anderen Seite der Bucht anzuleuchten, um sie während der langen Belichtung ein wenig hervorzuheben. "Ganz langsam, als ob du sie mit dem Licht anmalen würdest." Das erste Foto ist verschwommen.

Jaime rechnet und denkt nach, stellt alles neu ein. Dann drückt er auf den Fernauslöser und stellt den Alarm seines Handys auf 15 Minuten. Wir machen die Stirnlampe aus, stecken die Taschenlampe weg. Über uns leuchten nur noch die Sterne. "Willst du ein Bier?", fragt er und zieht zwei Dosen aus der Fototasche. (Brigitte Kramer, DER STANDARD, Album, 18.1.2014)