Einsteigen bitte: Unentdeckte Orte und blinde Flecken in Wien
"Die 78er" steigen in verlassene Gebäude ein und klettern auf Kräne - Fotos von ihren Erkundungstouren veröffentlichen sie im Internet
Ansichtssache
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Rosa Winkler-Hermaden
"Die 78er" steigen in verlassene Gebäude ein und klettern auf Baustellenkräne - Fotos von ihren Erkundungstouren veröffentlichen sie im Internet
Sie sind meistens zu zweit unterwegs, und das in der Nacht. Das Kollektiv "Die 78er" erkundet die Stadt Wien und ihre Umgebung, fotografiert unentdeckte Orte, verlassene Plätze und stellt die Bilder auf seine Website und seine Facebook-Seite. "Die 78er" gibt es seit Anfang 2012. Anfangs nannten sie sich "Die 78er - Magistratsabteilung für Stadterkundung" in Anlehnung an die 48er, wie Müllabfuhr und Straßenreinigung genannt werden. "Da sich auch unser Logo sehr stark an dem der Stadtreinigung orientierte, kam vor wenigen Monaten ein Schreiben aus dem Rathaus mit der Aufforderung, unseren Namen und unser Logo zu ändern", sagt einer der Initiatoren, der anonym bleiben möchte. Um jedoch den "pseudooffiziellen Anstrich" zu wahren, nennen sie sich seitdem "Die 78er - Institut für Stadterkundung".
Sie besteigen weiterhin Dächer, klettern auf Türme und in das Innere verlassener Villen und Diskotheken. Viele Orte haben ihre ursprüngliche Funktion verloren, und die Zeit scheint in ihnen stillgestanden zu sein. Wieder anderswo werden Plätze umfunktioniert und etwa von Graffiti-Malern oder Obdachlosen weitergenutzt. "Wir erkunden die blinden Flecken der Stadt, schauen hinter ihre Kulissen, die vielleicht nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind", sagen die Aktivisten.
Im Folgenden einige Bilder des Kollektivs:
In dieser Galerie: 15 Bilder
"Schon von Anfang an konzentrierten wie uns bei unseren Touren fast ausschließlich auf die Stadt Wien." Die Künstler wollen unerkannt bleiben.
Unterwegs auf der alten Stadtbahn und späteren U6. Die Gruppe hat keine Vorbilder, "aber es gibt sehr viele Leute auf der ganzen Welt, die Ähnliches machen und im Internet extrem gutes Material zeigen".
Der Blick auf die Stadt von einem der Flaktürme aus: "Orte bestechen durch einen wunderbaren Ausblick über die Stadt."
Der Speisesaal eines verlassenen Hotels im Wienerwald. "Viele schauen sich schon als Kinder verlassene Häuser oder Fabriken an. Mit der Zeit geht dieser kindliche Entdeckerdrang wieder verloren."
Am Dach eines ehemaligen Amtsgebäudes: "Solche verlassenen oder unzugänglichen Orte haben ihren ganz eigenen und besonderen Charme. Man sieht Dinge, die sonst niemand oder nur sehr wenige Leute sehen. Verfallene Gebäude haben eine besondere Ästhetik - gerade wenn die Natur sie sich zurückholt, ist das sehr eindrucksvoll."
In einem leeren Bürogebäude wagen die Künstler den Blick hinter die Kulissen. Sind die Gebäude noch voll mit alten Möbeln und Gegenständen, nehmen sie diese aber nicht mit. "In der Regel nicht, da das Interessante an den Orten oft eben diese Hinterlassenschaften sind und man sich selbst besonders freut, wenn alles noch unberührt ist."
Wenn dann allerdings der Bagger vor der Tür und der Abriss kurz bevorsteht oder schon begonnen hat, sehen sie keinen Sinn mehr hinter dem Motto vieler sogenannter Urbexer: "Nichts mitnehmen außer Fotos, nichts hinterlassen außer Fußspuren." Im Bild: Eine abgebrannte Diskothek.
In der Kanalisation von Wien.
Die Mehrheit der Reaktionen sei positiv, erzählen "Die 78er": "Viele Leute sind erstaunt, welche Orte sich in der Stadt verstecken, die im Alltag meist nicht beachtet werden." Oder wo Normalsterbliche einfach nicht hinkommen.
Manchmal werden sie natürlich auch mit Kritik konfrontiert: "Es gibt auch jene, die meinen, wir hätten wohl zu viel Zeit und nichts Besseres zu tun." Andere wiederum, die Ähnliches machen, stoßen sich daran, "dass wir mit unserem Projekt an die Öffentlichkeit gehen und dadurch Aufmerksamkeit auf dieses Hobby ziehen".
Von der Polizei wurden sie bei ihren Erkundungen noch nicht verscheucht: "Wir hatten zwar noch nie Probleme, aber es kann schon passieren, dass man auf Nachbarn, Securitys, Arbeiter oder Obdachlose trifft. Oft befindet man sich hier aber in einer rechtlichen Grauzone."
Ist Wien ein gutes Pflaster, um geheime Orte zu entdecken? "Wie man auf unseren Bildern sieht, gibt es in Wien mehr als genug zu entdecken, wobei das meiste nicht unbedingt auf den ersten Blick ersichtlich ist. Allerdings wurden gerade in letzter Zeit wieder sehr viel Klassiker abgerissen." Als Beispiele nennen die Künstler das Zementwerk bei Kaltenleutgeben, das Josef-Afritsch-Heim und die GEBE-Fabrik.
Gibt es Städte, wo es mehr zu sehen gibt als in Wien? "In anderen Städten gibt es natürlich ungleich mehr Verlassenes und Verfallenes. Aber Wien bietet einfach eine große Vielfalt."
Blick auf den Graben bei Nacht.
Die Tätigkeit der "78er" ist keineswegs auf alte Bauten beschränkt: "Wenn wir gerade keine verlassenen Gebäude finden, erkunden wir auch gerne Großbaustellen oder verschiedene Tunnel unter der Stadt." (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 22.1.2014)
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