Die schattenhafte stumme Gewalt der Sprache, Farben oder dem Licht durchdringen, "um freier und leichter werden zu können": Elisabeth Reichart.

Foto: Marko Lipus

Mit Februarschatten (1984) wurde Elisabeth Reichart als Schriftstellerin bekannt. Mit diesem Roman fand die promovierte Historikerin, die sich zuerst wissenschaftlich mit der NS-Zeit auseinandergesetzt hatte, literarisch zu ihrem Thema.

"Februarschatten" ist das einprägsame Sprachbild für die körperlich-atmosphärische Dimension des geschichtlichen Traumas der NS-Vernichtung im Umkreis des KZ Mauthausen. Es wird sie immer weiter beschäftigen, wie in den Familien - Reichart ist nicht weit entfernt von Mauthausen, in Steyregg, aufgewachsen - die Gewaltgeschichte weitergegeben wird, von den Vätern und Müttern, dieser Schatten in uns selber, aus dessen Bann wir uns zu befreien haben. Weibliche Autorschaft nach 1945, das ist in ihren Büchern die Frage, von wo wir herkommen, aus welchen Land- und "Zeitschaften", wie wir mit unseren Familien verflochten sind und wie wir zur Autorschaft über unser Leben gelangen können.

Für die Autorin ist die künstlerische Arbeit ein Modell dieser Befreiung. Die Künstlerinnengestalten in ihren Romanen - die schreibende Tochter in Februarschatten, die Malerin in Das vergessene Lächeln der Amaterasu (1998) oder die Fotojournalistin in Die unsichtbare Fotografin (2008) - sehen den Sinn ihrer Arbeit darin, die schattenhafte stumme Gewalt mit der Sprache, mit den Farben oder dem Licht zu durchdringen, um freier und leichter werden zu können. In dem kurz vor dem sechzigsten Geburtstag der Schriftstellerin erschienenen Lyrikband In der Mondsichel und anderen Herzgegenden ist dieser durchgängige Impuls von Reicharts Schreiben noch deutlicher geworden. Unter dem märchenhaften Titel sind Gedichte versammelt, die eine Poetik des Lichts und der Farben entfalten. Es sind Gedichte von Landschaften und Räumen, die Schutz und Stille gewähren und eine mystische Aura ausstrahlen.

Dass eine Romanschriftstellerin plötzlich Gedichte schreibt, überrascht, umso mehr, als durch die Gedichte der poetische Werkzusammenhang auch in den Romanen auf einmal besser sichtbar wird. Dreißig Jahre lang schrieb Reichart vor allem Romane, die von der Literaturkritik als feministische oder geschichtsbewusste engagierte Literatur registriert wurden, und plötzlich zeigen ihre Gedichte, dass es doch bereits in der Romanprosa auch um die Schönheit und mystische Selbstständigkeit der Dinge ging.

Ich finde mich nicht

Diese Intention bedeutet nicht Geschichtslosigkeit, sondern sie zielt auf die Grundfrage der Ästhetik des 20. Jahrhunderts: wie den Dingen, die durch den Warencharakter fremd und durch die Shoah verfinstert wurden, im Kunstwerk wieder ihre Aura zurückerstattet werden kann. Denn entfremdet und feindlich, wie die Dingwelt den Menschen heute gegenübertritt, trägt sie zum Selbstverlust bei: "Ich finde mich nicht, so allein mit den Dingen, die in Blut waten. [...] Bedrohlich wirken sie in ihrer Übermacht, und sie wissen es", sagt die Malerin im Roman Das vergessene Lächeln der Amaterasu, der jetzt im Otto-Müller-Verlag neu aufgelegt wird. Die "Dinge brauchen uns nicht, [...] sie löschen uns aus mit ihrem Klirren und Quietschen"; man wird vom "böse[n] Blick" der Dinge "angestarrt" und geht sich selber in diesem Blick verloren.

Die Rettung vor dem "bösen Blick der Dinge" liegt in der Form und in den Farben, als würde sich in ihnen im Sinne von Goethes Farbenlehre das "menschlich[e] Wesen" offenbaren; sie verbürgen der Malerin wie der Dichterin jenes "ander[e] Sehen in der Kunst", in welchem "die Farben beständig" werden. Es sei "das Wichtigste" in ihrem "Leben", dass die Dinge, ein Haus zum Beispiel, die "Todesfarben ablegen dürfen und in [ihrer] ursprünglichen Farbe wiedergeboren werden".

Aber was ist die "ursprüngliche Farbe"? Sie fällt mit dem Ursprung der Kunst zusammen, weil sie Öffnung für die Welt bedeutet, Wiederherstellung der Integrität des Ich in der Wahrnehmung ist. Im ersten Gedicht des Lyrikbands, es hat den anspielungsreichen Titel Ginko , sind es die Ginko-Blätter auf der Straße vor der Haustür "mitten in Wien", die an all "die Ginkos / auf all den Inseln / im Land der / vergessenen / Göttin" erinnern, als würden die west-östlichen Lebenshälften des autobiografischen Ich im Hier und "Jetzt" zusammenfinden.

Jeder Ort, kein Ort

Die sprachlichen Zeichen erinnern an die fernöstliche Mystik, der Ginko ist ja der buddhistische Tempelbaum. So wird der Ort "mitten in Wien" aufgehoben in einem System von literarischen Korrespondenzen, wie ja auch im Titel des ersten Zyklus des Gedichtbands, Jeder Ort / Kein Ort, die Beziehung von Literatur und Utopie anklingt. Kein Ort. Nirgends, das war die wissende Chiffre bei Christa Wolf, der wichtigsten Mentorin der jungen Elisabeth Reichart.

Das kunstvolle Eingangsgedicht bezieht sich auf Goethes Gingo biloba im West-östlichen Divan, auch das Bild des Fächers erinnert an Goethes berühmten Vers "Das Wort ist ein Fächer". Aber man braucht das gar nicht zu wissen, denn genau- so liegen Reicharts eigene biografische West-Ost-Erfahrung und die nachdenkliche Erinnerung ihrer Lebensreisen dem Gedicht zugrunde.

Die Gedichte der folgenden drei thematischen Zyklen in dem Band, Träume, Herzgegend und Nacht, stellen die lichte Raum-Poetik als Ich-Entwurf infrage. Fast alles trägt hier die Spuren von schmerzlichen Verlusten, von Verletzungen, von etwas Bedrohlichem, oder man findet den Ausdruck eines wilden Begehrens, mit dem sich das Ich alleingelassen erfährt. Anrufung, das Gedicht, das den Träume-Teil eröffnet, ist der in kurze Verse gegliederte Aufschrei eines Ich, eines unbändigen Verlangens nach körperlicher Nähe im Raum der Natur, der die gesellschaftliche Kälte und Isolation wettmachen soll: "Umarme mich Sommer / Streichle mich Wasser / Glüht mir Sterne / Berge mich Wasser".

In anderen Naturbildern, auch hier ist es oft die thematische Seenlandschaft, bricht das Versenkte und Stillgelegte hervor, von dem der See "inmitten" - der buddhistische Traum vom In- der-Mitte-Sein - zerrissen wird. Nichts heilt den Widerspruch in sich selber, und das In-Stich-gelassen-Werden verwandelt die Herzgegend in einen Ort der Gewalt. Hier "steckt ein Messer im Herz", die "Wunder / die Wunden / sie liegen hautnah", und sie "schleifen" das Ich.

Das fast mystische In-sich-Ruhen in den lichten Landschaftsräumen, oft mit dem stillen See "inmitten", das die Gedichte des ersten Teils - Jeder Ort / Kein Ort - bestimmt, erhält hier eine schreiende Gegenstimme durch das begehrende, verletzte, sterbliche Ich, eine Gegenstimme, die sich in der wilden, oft unreinen, vor Abstürzen in Kalauer und Kolportage nicht zurückschreckenden Sprache artikuliert.

Das letzte Gedicht, Nachtgedicht 2, das die Reihe der Todes- und Sterbegedichte des thematischen Zyklus Nacht abschließt, gehört zu den schönsten der vielen See-Gedichte - nicht nur von Reicharts Gedichtband. Es setzt ein mit einer vierzeiligen Strophe, auf die, grafisch abgesetzt, das Wort "Stille" folgt und dann der Vers "Am Ufer lauert ihr Gegner":

Schon legt sich die Dunkelheit auf das Wasser /

ertrinkt ein Schrei in dem schwarzen See /

leckt das Boot, das seinen Hafen nicht fand /

kehren die schwebenden Nebel heim ins Gebüsch /

Stille

Am Ufer lauert ihr Gegner

In den dann folgenden Versen wird nicht gesagt, wer dieser "Gegner" ist, aber am Schluss dieses Nachtgedichts steht das Traumbild einer "Herzgegend", die sich wie ein dunkler, rätselhafter Mordschauplatz ausnimmt. Es geht um eine Todesart im Ich, um das Verdrängte und Erstickte in einem selber. Die schwarze Romantik dieser Topografie - es ist noch einmal eine Seenlandschaft - stellt die Antistrophe zum quasi klassischen Ginko-Gedicht dar, das am Beginn des Lyrikbandes steht. (Hans Höller, DER STANDARD, 25./26.1.2014)