In nicht einmal vier Jahren seiner Amtszeit hat Präsident Wiktor Janukowitsch die Situation im Staat und in der ukrainischen Gesellschaft bis zum äußersten Spannungsgrad ausgereizt. Noch schlimmer - er hat sich selber in eine Sackgasse getrieben, da er in dieser Situation ewig an der Macht bleiben soll und seine Macht mit jeglichen Mitteln aufrechterhalten will. Denn sonst steht ihm eine rigorose strafrechtliche Verantwortung bevor. Das Ausmaß von Diebstahl und Unterdrückung übersteigt alle Vorstellungen von menschlicher Gier.

Kombinierte Gewalt

Die einzige seit über zwei Monaten von dem Regime gegebene Antwort auf die friedlichen Proteste ist eskalierende Gewalt, die man als eine Art "kombinierte" Gewalt bezeichnen kann: Einerseits erfolgen Angriffe der Polizeieinheiten auf den Majdan, andererseits werden oppositionelle Aktivisten und die einfachen Teilnehmer der Protestaktionen einzeln verfolgt (Beschattung, Prügel, Anzünden von Autos und Häusern, Einbrüche in Wohnungen, Verhaftungen, Gerichtsprozesse).

Einschüchterung wird zum Schlüsselwort. Da diese Einschüchterungen aber keine Wirkung zeigen und die Menschen immer zahlreicher protestieren, greift die Regierung zu immer brutaleren Repressalien. Eine gesetzliche Basis für die Repressalien wurde am 16. Januar geschaffen, als die vom Präsidenten voll und ganz abhängigen Abgeordneten mit allen erdenklichen Reglements-, Tagesordnungs-, Abstimmungsprozedur- und Grundgesetzverletzungen durch einfaches Heben der Hand und in wenigen Minuten eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet haben, die das Land mit Sicherheit in eine Diktatur und einen Ausnahmezustand führen, auch wenn der Ausnahmezustand gar nicht verhängt wird.

Weil ich, um nur ein Beispiel anzuführen, diese Zeilen schreibe und weiterleite, kann ich gleich nach mehreren Artikeln vor Gericht zitiert werden: wegen "Verleumdung", "Aufwiegeln" und Ähnlichem. Mit einem Wort: Werden diese "Gesetze" anerkannt, kann jeder behaupten, in der Ukraine sei alles verboten, was durch die Regierung nicht erlaubt ist. Und die Regierung gibt ihre Erlaubnis nur für das eine: den unbedingten Gehorsam der Regierung gegenüber.

Die ukrainische Gesellschaft konnte sich mit solchen "Gesetzen" nicht zufriedengeben, deshalb begannen am 19. Jänner die Massenproteste wieder, in denen es um die Zukunft des Landes geht. Heute kann man in den Fernsehnachrichten aus Kiew Protestierende in unterschiedlichsten Helmen und in Gesichtsschutzmasken sehen, manchmal halten sie Holzknüppel in den Händen. Glauben Sie bitte nicht, dass Sie "Extremisten", "Provokateure" oder "Rechtsradikale" vor sich haben. Sowohl ich als auch alle meine Freunde erscheinen nun zu den Kundgebungen in solcher Ausrüstung. So schnell sind wir - ich, meine Frau, meine Tochter, meine Freunde - zu Extremisten geworden.

Wir haben keinen anderen Ausweg mehr gefunden, als unser Leben und unsere Gesundheit zu verteidigen. Auf uns zielen die Kämpfer der Polizeieinheiten, unsere Freunde werden von ihren Scharfschützen getötet. Die Zahl der Protestierenden, die allein im Regierungsviertel in den letzten zwei Tagen getötet wurden, beträgt nach unterschiedlichen Angaben zwischen fünf und sieben Personen. Die Verschollenen aus ganz Kiew zählt man bereits in Dutzenden.

Lebenslanges Gefängnis

Wir können mit den Protesten nicht aufhören, weil das bedeuten würde, dass wir unser Land als ein lebenslanges Gefängnis in Kauf nehmen würden. Die jungen Ukrainer, die postsowjetischen Generationen, vertragen keine Diktatur mehr. Wenn die Diktatur siegt, muss Europa mit der Perspektive rechnen, ein Land wie Nordkorea an der europäischen Ostgrenze zu bekommen. Außerdem wird das für Europa eine Flut von Flüchtlingen, zwischen fünf und zehn Millionen Menschen, bedeuten.

Ich möchte niemanden erschrecken. Unsere Revolution ist die Revolution der Jugend. Und diesen nicht erklärten Krieg führt die Regierung vor allem gegen die Jugend. Mit der nächtlichen Dunkelheit erscheinen auf den Kiewer Straßen undefinierte Menschengruppen "in Zivil". Sie machen hauptsächlich Jagd auf die jungen Menschen, die kleine Abzeichen oder Markierungen des Majdan-Platzes oder der Europäischen Union tragen. Die gefassten Jugendlichen werden in Wälder gebracht, nackt ausgezogen und im harten Frost gefoltert.

Ist es Zufall, dass junge Künstler - Theaterdarsteller, Maler, Dichter - auffallend oft Opfer dieser Überfälle werden? Man gewinnt den Eindruck, dass im Lande so etwas wie "Todesschwadronen" walten, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Besten auszurotten.

Und noch ein bemerkenswertes Detail: In den Kiewer Krankenhäusern werden den protestierenden Verletzten Polizeifallen gestellt. Die Protestierenden (ich muss das noch einmal betonen: die verletzten Protestierenden!) werden in Krankenhäusern gefasst und zu Verhören an unbekannte Orte gebracht. Sogar für die zufälligen Opfer einer Polizeigranate ist es gefährlich geworden, einen Arzt aufzusuchen. Die Ärzte zucken die Achseln und liefern ihre Patienten den sogenannten "Rechtsschützern" aus.

In der Ukraine geschehen massenhaft Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und die Verantwortung für die Verbrechen trägt die jetzige Staatsmacht. Wenn man hier von Extremisten spricht, kann das nur auf die Staatsmacht zutreffen. Und nun zu den beiden traditionell kompliziertesten Fragen: Ich weiß nicht, was weiter geschehen wird, so wie ich nicht weiß, was Sie heute für uns tun können. Sie (die Journalisten und Redakteure, an die der offene Brief ergangen ist, Anm.) können aber immerhin diesen Artikel hier weiterleiten und publizieren.

Denkt an uns

Was noch? - Seid in Gedanken bei uns. Denkt an uns. Wir werden auf jeden Fall siegen, wie grausam die da auch vorgehen mögen. Die Ukrainer verteidigen heute buchstäblich mit eigenem Blut die europäischen Werte einer freien und gerechten Gesellschaft. Und meine Hoffnung besteht darin, dass Sie das zu schätzen wissen.(Juri Andruchowitsch, DER STANDARD, 25.1.2014)