Fast könnte man den Eindruck gewinnen, der Arabische Frühling sei völlig gescheitert. Syrien versinkt im Bürgerkrieg, Libyen im Chaos, Ägypten in den blutigen Auseinandersetzungen. Wäre da nicht Tunesien. Das Land erholt sich von jedem Schlag und geht, wenn auch langsam, Schritt für Schritt in Richtung Demokratie. Trotz heftiger Debatten, trotz Anschlägen und trotz Auseinandersetzungen mit kleinen terroristischen Gruppen behält es seine Stabilität. Mehr noch, die Sonntag verabschiedete Verfassung hat Vorbildcharakter für die Region: Sie ist das modernste Grundgesetz in der arabischen Welt.

Es sind mehrere Faktoren, die Tunesien so besonders machen: Das Land schrieb früh eine Trennung von Staat und Religion und die Frauenrechte fest. Es gibt eine starke Zivilgesellschaft, die diese Errungenschaften verteidigt. Es gibt die mächtige Gewerkschaft UGTT – und es gibt keine starke Armee. Niemand kam so auf die Idee, mit einem Staatsstreich zu liebäugeln. Auch die Islamisten, die seit 2011 mehrfach durch radikale Ausfälle aufgefallen waren, zeigten sich kompromissbreit und verantwortungsbewusst.

Tunesien beweist, dass arabische Welt und Demokratie kein Widerspruch sind. Die Gesellschaften im Süden des Mittelmeeres sind vielschichtig, und die Demokratisierung braucht ihre Zeit. Wer aber, wie bisher auch die EU, kurzfristige Stabilität allein über alles andere setzt, kann diesen Prozess weder verstehen noch unterstützen. (DER STANDARD, 28.1.2014)