Die Rezeptur für den besonderen Schnee auf den Hängen Hokkaidos: Aus dem Pazifik vor Japan steigt Feuchtigkeit auf, die sich mit sehr kalter Luft aus Sibirien vermischt.

Foto: Christian Weiermann

Anreise: Flug von Wien nach Sapporo via Tokio zum Beispiel mit Austrian. Vom Flughafen Sapporo: Bus nach Niseko, drei Stunden.

Unterkunft: zum Beispiel das Niseko-Weiss-Hotel, pro Person ab 50 Euro: http://niseko-weiss.com

Veranstalter: "Flory Kern Ski Berge Abenteuer" hat die Tiefschneeskigebiete auf Hokkaido im Programm; achttägige Rundreise exklusive An- und Abreisezeit, inklusive Guide, Hotel mit Frühstück, Transfers, ab 1890 Euro.

www.flory-kern.de

Grafik: DER STANDARD

Mit Stäbchen machen wir uns über rohen Fisch, Gemüseauflauf und Fleischspieße her. Es ist unser erstes Frühstück in Japan. Erst als vor dem Panoramafenster des Niseko-Weiss-Hotels die imposanten Schneeberge Schatten auf den akkurat geräumten Parkplatz zeichnen, ist auf den Gesichtern der europäischen Gäste eine Spur Enttäuschung zu erkennen. Sonne! Sind wir nicht gerade wegen der Schlechtwettergarantie mit breiten Tiefschneebrettern auf die Insel Hokkaido gereist? Knapp 10.000 Kilometer weit, nur mit einer kleinen Tube Sonnencreme für den Notfall im Gepäck. Hat es nicht geheißen, dass in Niseko blauer Himmel im Winter so gut wie nie zu sehen ist und unglaubliche 18 Meter Schnee fallen?

Doch schon bei der Autofahrt zum Lift wird klar: Die Geschichten, die sich um diesen sagenhaften Hotspot für Pulverschnee ranken, sind keine Märchen. Die Schneewände links und rechts der Fahrbahn sind zwei, drei Meter hoch. Von den wenigen Häusern, die sich hinter der penibel freigefrästen Straßenschlucht verstecken, spitzeln nur noch weiße Dächer hervor. "Niseko", sagt Flo Hellberg, unser japanerfahrener Guide, während er den Allradwagen lenkt, "ist was für echte Schneemenschen." Und deshalb hadern wir auch ein bisschen mit den bescheidenen fünfzehn Zentimetern Neuschnee, die über Nacht gefallen sind. Für Niseko-Verhältnisse, muss Hellberg zugeben, ist das wirklich wenig.

Also Skifahren unter blauem Himmel, dafür mit Liftwarten, die sich vor jedem Gast verbeugen und ihm bei zehn Grad minus noch ein warmes Lächeln schenken - eine Herzlichkeit, die auf Skifahrer aus den Alpen beinahe befremdlich wirkt. Am Ausstieg wieder der Knicks eines Angestellten und der Dank fürs Mitfahren. Der klingt ein wenig wie das österreichische "Sammas?"

Regionale Rezeptur

"Sushipowder" nennen Tourenfreaks den Pulverschnee auf dem Mount Annupuri, Nisekos 1308 Meter hohem Hausberg. Dieser Schnee, heißt es, gehört zum Besten, was in kristalliner Form vom Himmel fällt. Hellberg verrät uns in einem winzigen Lokal mit schmalen Hockern und einem groben Holztisch, an dem wir mit Stäbchen Fleisch und Gemüse aus einem Topf fischen, die spezielle Rezeptur des Hokkaido-Schnees: "Vom Meer steigt ständig Feuchtigkeit auf und mischt sich unter die extrem kalte Luft, die aus Sibirien kommt. Deshalb schneit es hier auch bei zehn Grad minus noch richtig heftig ."

In den Birkenwäldern auf dem Mount Annupuri sind überall Lichtungen zu sehen - ideales Freeride-Terrain. Allerdings ist der Schnee noch völlig unverspurt, obwohl die Lifte schon seit einer halben Stunde in Betrieb sind. "Die Niseko-Regeln", lautet Hellbergs Erklärung. Wie so vieles in Japan ist auch Tiefschneefahren streng reglementiert. Entlang der Pisten sind überall Seile gespannt, und wer einfach unten durchschlüpft, riskiert Ärger mit der Snowpatrol oder den Verlust des Liftpasses.

Strenge Regeln

Männer in Rot und mit Trillerpfeifen achten penibel darauf, dass Variantenfahrer nur an offiziell freigegebenen Zugängen in die Hänge fahren. "Manchmal", sagt Hellberg, der im Allgäu Lawinenkurse gibt und als Sicherheitsexperte für den deutschen Alpenverein arbeitet, "sind die Sperrungen schwer nachvollziehbar. Aber es hilft nichts, du musst dich an die Regeln halten."

Zum Glück ist rasch ein offener Zugang gefunden. Vor uns ein Birkenwald, dessen Stämme weit genug auseinanderstehen, um sie in weiten Schwüngen zu umkurven. Und tatsächlich: Der Schnee fühlt sich grandios an, bietet kaum Widerstand. Wie von Bühnenbildnerhand sind die Bäume mit Schneehäubchen in Szene gesetzt, zwischendrin sprießt noch grünes Bambusgras im japanischen Winterziergarten. Als Hellberg in Erfahrung bringt, dass der Zugang am Gipfel geöffnet wird, lassen wir uns in einem uralten Sessellift hinaufbringen, mit einer jausenbrettgroßen Pressspanplatte als Sitzgelegenheit. Das Bild von Japan als Hightech-Land nimmt Schaden.

Tiefschneefahren

Hellberg, der schon zigmal hier oben war, staunt, weil er ganz allein mit seiner Gruppe oben aussteigt. Niseko und der Mount Annupuri sind in der Szene kein Geheimtipp mehr. Neben Japanern kommen vor allem Australier, aber auch Chinesen und Europäer zum Tiefschneefahren auf die zweitgrößte Insel Japans.

Wer hier die erste Spur in den Schnee zeichnen will, hält sich normalerweise an die Regel: Auf die Plätze, fertig, los! Heute bleibt sogar Zeit für ein Erinnerungsfoto vom gegenüberliegenden Mount Yotei - ein gleichmäßig geformter Vulkankegel, der wie die Miniaturausgabe des Fuji, Japans heiligem Berg, wirkt.

Hellberg führt seine Begleiter zur Nordwestflanke des Gipfels, vorbei an einer Hütte, die so dick mit einem Eispanzer umhüllt ist, als handle es sich um eine Skulptur des weltberühmten Snowfestivals von Sapporo, Hokkaidos größter Stadt und Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1972. Zuerst rattern die Skier noch auf windverblasenem Untergrund.

Doch schon wenige Meter weiter lässt uns ein weiter, baumloser Hang mit Pulverschneeauflage juchzen. Weiter unten schweben wir wieder durch einsame Birkenwälder und über freie Felder, bevor nach 1000 Höhenmetern die Abfahrt endet. Eine schmale Spur führt uns durch einen Märchenwald zurück zur Liftstation Hanazono, wo wir eine Glocke läuten, die Wünsche erfüllen soll. Schneewolken, darum bitten wir unter lautem Gebimmel.

Und tatsächlich, am nächsten Morgen zeigt sich Niseko von seiner besten Seite: Es ist richtig garstig. Aus dunkelgrauem Himmel schneit es dicke Flocken, das Thermometer zeigt acht Grad minus. Weil aber der Wind heftig bläst, tritt Hellberg auf die Euphoriebremse. Kurze Zeit später starren wir bei der Liftstation auf die roten Lichter der Infotafel. Alle Anlagen stehen still.

Grünes Licht für Übermut

Als wir am Nachmittag wieder vor dem Kassenhäuschen stehen, blinken die ersten grünen Lämpchen auf - das Startsignal für einen unvergesslichen Skitag. Zwischen den Bäumen, die den Augen im starken Schneefall Kontrast bieten, liegt knietief der sagenhaft fluffige Stoff. Mit den vereisten Dreitagebärten sehen wir aus wie verwegene Polarforscher, verhalten uns aber wie übermütige Kinder. Nach jeder Fahrt klatschen wir uns ab und brüllen in regelmäßigen Abständen unser Glück heraus. So geht das den ganzen Nachmittag - und hätte noch viel länger gehen können. In Niseko kann man dank einer gewaltigen Flutlichtanlage auch bei Dunkelheit abseits der Piste fahren. Doch irgendwann verlassen uns die Kräfte.

Am letzten Tag scheint wieder die Sonne. Doch diesmal ist niemand betrübt. Über Nacht sind weitere vierzig Zentimeter des wunderbaren Sushipowder gefallen. Es wird einer dieser Tage werden, die für immer im Gedächtnis eines Skifahrers hängenbleiben. Hellberg gibt die Richtung vor, dann sucht sich jeder seinen eigenen Weg ins Tal und taucht wenig später mit einem breiten Grinsen wieder aus dem Gehölz auf.

Als wir wieder im alten Klappergestell sitzen, das uns zum Gipfel des Mount Annupuri bringt, ist schon von weitem eine gewaltige Menschentraube zu sehen. Mehrere Snowpatrol-Männer sichern den Zugang zum Hang, vor dem rund 200 Gleichgesinnte ungeduldig warten. So etwas habe selbst er selten erlebt, gesteht einer der Wächter. Er nimmt ein Megafon in die Hand und fordert die Meute auf, Ruhe zu bewahren.

Dann fällt das Seil, und die Pulverschnee-Prozession auf den Mount Annupuri kann beginnen. Hellberg treibt uns an, und wir folgen ihm rasch in den noch jungfräulichen Schnee. Zeit zum Fotografieren bleibt heute keine. Aber schon bald zieht sich das Feld wieder auseinander. Am Grat ist es bereits wie an einer Perlenkette aufgefädelt. Auch auf dem Berg beweisen die Japaner Sinn für Ordnung, gehen respektvoll miteinander um. Die Stimmung wirkt entspannt. Ganz anders, als es der Spruch auf dem Helm des Vordermanns vermuten ließe. "No friends on powderdays!", steht dort. (Roland Wiedemann, Rondo, DER STANDARD, 31.1.2014)