Der 100-Dirham-Schein, den er in der Hand hielt, war nichts Besonderes – nur Geld, vor kurzem aus einem Bankomaten gezogen, und er sah so frisch aus, als wäre noch nie etwas mit ihm bezahlt worden. Aber der Schein zeigte ihm, dass er woanders war.

Foto: Michael Glawogger

Der renommierte österreichische Dokumentarist Michael Glawogger ("Megacities", "Workingman's Death" und "Whores' Glory") ist für sein nächstes Filmprojekt ohne vorgefertigtes Konzept zu einer rund einjährigen Reise aufgebrochen. derStandard.at bringt exklusiv Tagebücher in Form von kleineren Geschichten, die von diesem filmischen Experiment erzählen. Die Beiträge sind im Stil der Geschichten des Buches "69 Hotelzimmer" geschrieben, das 2015 in "Die Andere Bibliothek" erscheinen wird.

foto: liz pompe

In einer Zeit, als er Bilder nicht in Frage stellte, sondern nur bestaunte, gab es einen kurzen Film, in dem ein Paar zu einem Lied durch Nebel auf ein herrschaftliches Haus zuging. Das Haus war irgendwie nicht näher einzuordnen. Der Mann trug die Kleidung eines reichen Südstaaten-Großgrundbesitzers, die Frau einen langen, schwarzen Mantel, unter dem ein weißes Kleid – ein Nachthemd oder ein Brautkleid – hervorlugte. Als sie an der weißen Tür dieses weißen Hauses ankamen, lösten sie sich filmisch in Luft auf. Dann folgte ein Insert: This is not here.

Zu einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, saß in dem Film "Ich gelobe" ein junger Soldat hinten auf einem Lastwagen und schaute in die Landschaft. Er sah da draußen alles, was er nicht haben konnte, weil er dort war, wo er war, und nicht dort, wo er sein wollte. Er dachte vielleicht an das Lied, zu dem das Paar durch den Nebel ging. Der Mann in dem Video hatte sich inzwischen an ein weißes Klavier gesetzt, und die Frau hatte begonnen, eine Tür nach der anderen zu öffnen, die von dem Raum mit dem Klavier ins Freie führten. Mit jedem Lichtstrahl, der in den Raum drang, wurde klarer, dass auch der Raum ganz weiß war. Der junge Soldat fühlte wohl: I am not there.

Er dachte an die Bilder dieser beiden Filme, als er in einem Hotelzimmer in Tanger lag und einen Hundert-Dirham-Schein betrachtete. Die Schriftzeichen darauf waren fremd, die wehende Kleidung der Leute, die darauf abgebildet waren, suggerierte eine gloriose Vergangenheit und eine Zukunft, in die man zumindest erhobenen Hauptes zu gehen bereit war. Der Schein war nichts Besonderes – nur Geld, vor kurzem aus einem Bankomaten gezogen, und er sah so frisch aus, als wäre noch nie etwas mit ihm bezahlt worden. Aber der Schein zeigte ihm, dass er woanders war, und er dachte: I came here.

Er stand auf, verließ das Hotel und ging in die alte Stadt Tanger, um etwas zu kaufen – etwas, von dem er nicht annähernd wusste, was es in seiner gewohnten Währung kosten würde. Das fiel ihm leicht, denn er weigerte sich, Geld umzurechnen. Erstens war das mühsam, und zweitens nicht sehr aussagekräftig. Was hieß es schon, dass dieser Schein soundso viel Prozent einer Zehn-Euro-Note wert war? Hier waren 100 Dirham etwas wert, und wie viel das war, würde er schon merken. Er wollte nicht auf so dumme Gedanken kommen wie zu finden, dass der Taxifahrer ihn betrogen oder das Abendessen nicht dem Preis-Leistungs-Verhältnis entsprochen hätte, das er sich von einem Land wie diesem erhofft haben hätte können. Da hätte er gleich zu Hause bleiben und sich über die Preise im Wiener Stadtzentrum beklagen können. Er ließ sich also freudvoll vom Taxifahrer betrügen, kaufte sich spitze Lederschuhe aus goldschimmerndem Kunstleder und überlegte beim Essen, ob er sich richtig erinnerte, dass die guatemaltekische Währung "Quetzal" hieß, und ein prachtvoller Vogel mit langen Schwanzfedern auf den Scheinen abgebildet war. Er hatte einmal einen echten Quezal gesehen. Es war in einer Zeit, als er wochenlang einen Fluss in Mittelamerika entlang getrieben war und müde und faul beobachtet hatte, wie der Mexikaner mit den Goldzähnen, dem das Boot gehörte, auf alles schoss, was sich am Uferrand bewegte, und dabei an einem Zahnstocher kaute. Einer der Schüsse ließ einen Quezal auffliegen, und als er diesen über dem Wasser dahingleiten sah, hatte wohl so etwas gefühlt wie: This is here.

Beim Betreten einer Shopping Mall in einem Vorort von Florenz fiel ihm auf, dass die internationale Elektronik-Supermarktkette "Media Markt" in Italien "Media World" hieß. Diese leise Variation erfüllte ihn mit tiefer Dankbarkeit. Es war noch nicht überall alles gleich. Die Variation existierte. Das dann gekaufte GPS gehorchte da schon universelleren Maßstäben. Man konnte die Frauenstimme, die einem den Weg wies, in verschiedenen Sprachen und Tonfällen anwählen. Die deutschen Stimmen hießen Steffi und Marie. Steffi war eine strenge Stimme, die einen ermahnte, keine Abfahrt zu verpassen, und die im Falle einer Verfehlung harsche Befehle zur Umkehr geben konnte, während einen Marie sanft und feinfühlig durch die Welt geleitete. Sie nahm einen quasi an der Hand und führte einen so fast zärtlich um das Erdenrund. Sie war sich sicher, man würde ankommen. Als er sein Hotel in Genua erreicht hatte, hauchte sie: "Sie haben ihr Ziel erreicht". Er fragte sich, ob es auf Englisch wohl auch eine solche Sprecherin gab, und was sie sagen würde. Obwohl er schon oft mit Leihautos in den USA unterwegs gewesen war, konnte er sich nicht daran erinnern. Vielleicht: You are here now.

Als die Frau im weißen Kleid alle Türen geöffnet hatte, setze sie sich zu dem Mann ans Klavier. Er spielte weiter sein Lied von einer Welt, in der alles gut sein würde: Imagine there's no heaven / It's easy if you try / No hell below us / Above us only sky /

Imagine all the people / Living for today / Imagine there's no countries / It isn't hard to do / Nothing to kill or die for / And no religion too / Imagine all the people / Living life in peace. Das Gesicht der Frau blieb ausdruckslos, während er mit einer fast kindlichen, einfachen und ungespielten Naivität sang. Es war nicht auszumachen, was sie sich wohl gedacht haben mag. I am not here?

Der Soldat in Wolfgang Murnbergers "Ich gelobe" blieb in seinen Gedanken bei dem Wort Imagine hängen, als er in die Welt dieses Films, in dem er lebte, hinausschaute. Er dachte an all die aufregenden Dinge, die da draußen in der Welt auf ihn warten mussten. Es musste einfach so sein. Er wusste noch nicht, dass es bei der Vorstellung von der Vorstellung bleiben würde. Man hätte das dem Gesichtsausdruck von Yoko Ono ablesen können: It was not there yet.

Als er im Jahre 2014 die Westsahara durchquert hatte und auf den Grenzübergang nach Mauretanien zufuhr, fühlte er das innerliche Kribbeln, das ihn jedes Mal überkam, wenn er auf eine Grenze zufuhr. Er würde nicht durchgelassen werden. Er hatte etwas falsch gemacht, das Visum war wertlos, die Berechtigung ungültig, und er würde zurückgeschickt werden. Zurück nach Hause, wo er hingehörte. Das richtige Geld für das Land (Ouguiya) hatte er auch nicht dabei. Ein 1000-Ouguiya-Schein (mit dem Kamel darauf) hätte es schon getan. Aber nein, er hatte keinen. Doch dieses Gefühl hatte auch eine gewisse Wärme. Der unfreundliche, herrische Uniformierte, der, Schwierigkeiten verheißend, auf sein Auto zukam und gleich einen abweisenden Blick auf das lächerliche Visum in seinem Pass werfen würde, war wie die Unheil verheißende, dunkle Wolke aus stürzenden Engeln von Hieronymus Bosch – schrecklich vertraut irgendwie. Er ließ das alles stoisch über sich ergehen, in dem sicheren Gefühl, dass, hatte er die Grenze erst einmal passiert, sich ihm eine neue Welt eröffnen würde. Und: Media world is not there.

"Alles eine Frage der Zeit", könnte man sagen. Aber der Hase, der auf das Erdloch zuläuft, in das auch Alice ins Wunderland fallen wird, zieht seine Uhr aus der Tasche und weiß, dass es schon spät ist. (Michael Glawogger, derStandard.at, 29.1.2014)