Barbara Heitger, Organisationsberaterin,  Co-Gastgeberin der
Veranstaltungsreihe Leadership Revisited.

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Warum zeichnet sich in vielen Unternehmen eine so große Erschöpfung ab?

Heitger: Die Krise 2008 war für viele Unternehmen eine Nagelprobe. Vielfach waren Führungskräfte Vorbild für ihre Mitarbeiter, wenn es darum ging, notwendige Ressourcen zu mobilisieren und den Takt zu erhöhen. Die Liquiditätskrise ist vielerorts nahtlos in eine Wachstumskrise übergegangen, das Rad dreht sich schneller denn je. Es geht nicht mehr um einen Sprint, sondern um einen Marathon, bei dem eine druckvolle Situation die nächste ablöst. Es kehrt keine Ruhe ein. Viele manifeste und informelle Räume zur Regeneration, zur Entschleunigung sind durch Effizienzmaßnahmen wegrationalisiert worden. Organisationen haben sich so beschleunigt, aber nicht erneuert, haben ihre Ressourcen ausgenutzt.

STANDARD: Also die Früchte schlechter Führung?

Heitger: Organisationen sind noch einmal effizienter geworden. Wenn sie nur auf Effizienz setzen, bezahlen sie das aber mit einem Verlust an Agilität, Aufnahmefähigkeit, letztlich mit Unfähigkeit, mit Unerwartetem (das uns ständig begleitet) umzugehen. Das ist dann einer zu dominanten Fokussierung der Führung auf den "Exploit"-Modus zuzuschreiben. Wo Führung vor allem damit beschäftigt ist, Kosten zu optimieren, alles in Richtung Effizienz zu treiben, herrscht Exploit-Modus. Ein Großteil der Unternehmen verdankt sich heute auch diesem Führungsmodus. Er fokussiert den Blick auf das Gegebene und reduziert damit Komplexität - das entspricht auch einer großen Sehnsucht. Widersprüche werden weniger analysiert als entschieden, pragmatische Lösungen werden kreativen Ansätzen vorgezogen. Das kann Unternehmen in Selbstgefährdung bringen, weil die Balance zum Explore-Modus fehlt.

STANDARD: Heißt?

Heitger: Das heißt, dass Standardprozesse beschleunigt und Ressourcen abgebaut werden - dann kann, Unerwartetes schnell zur Katastrophe führen, weil die Organisation sich erschöpft, keine Reserven mehr vorhanden sind. Denn wer solche Erschöpfungssyndrome als individuelles Problem abhakt, der verliert wesentliche Stellschrauben aus dem Blick und überfordert Einzelne. Und zwar dort, wo die Organisation für neue Routinen für Regeneration sorgen müsste und dafür, dass sie auch an ihrer Zukunftsfähigkeit arbeitet.

STANDARD: Wie geht das?

Heitger: In Explore-Settings. Dort können übersehene und offene strategische Fragen besprochen werden. Dort werden Widersprüche adressiert und Stakeholder über Unternehmensgrenzen hinweg einbezogen. Die Organisation erhöht so die Komplexität, versorgt sich quasi selbst mit Unsicherheit und begibt sich so auf Feldforschung nach den eigenen Zukünften. Wenn Exploit und Explore gleichermaßen Raum gegeben wird, dann ist Führung erfolgreich. Ein Perspektivenwechsel mit Explore ist aber alles andere als trivial und benötigt ein Führungsverständnis, das sowohl individuell als auch als Mannschaftsleistung und als organisationale Fähigkeit gedacht wird. Der Sog ins Operative ist selbstverständlich, geht dann von allein.

STANDARD: Die Bedingungen derzeit, so scheint es, bieten aber das Gegenteil: 24/7, knappere Ressourcen, Matrixorganisationen mit unklaren Zielen, also Führungskräfte, die neben dem Dringlichen gar nicht mehr an das Wichtige denken können ...

Heitger: Führung hat abseits dieser Herausforderungen noch ein "Problem" , das mit dem neuen Bild von Führung zu tun hat: Sie wird einerseits anspruchsvoller, zugleich aber auch unsichtbarer und damit weniger heroisierbar.

STANDARD: Nicht gut für Narzissten, die permanent Sichtbarkeit, Anerkennung und den Spiegel der Grandiosität brauchen.

Heitger: Na ja, gehen wir doch einmal von Führungskräften mit gesundem Narzissmus aus. - Der Grund der neuen Unsichtbarkeit liegt im Wesen der neuen Führung, bei der es weniger um die große Einzelentscheidung geht, sondern vielmehr um gelungene Rahmensetzung, weniger um charismatisches Vorangehen als darum, attraktive Settings für effektive Selbstorganisation zu schaffen. Das ist vermutlich auch der Grund dafür, dass herausragende Beiträge von Führung in manchen Unternehmen seit 2008 nicht gesehen werden. Das sind Unternehmen, die viel geleistet haben - von Integration neuer Technologien bis zur Globalisierung oder einem gelungenen Krisenmanagement.

STANDARD: Das klassische bürgerliche Führungsideal, in dem Manager mit ruhiger Hand lenken, ihre Untergebenen schützen und wohlüberlegte Entscheidungen treffen, ist passé?

Heitger: Die Praxis ist hier der Theorie voraus. Unternehmen und die Gesellschaft messen Führungskräfte noch an diesem Ideal - tatsächlich brauchen Führungskräfte selbst aber heute ganz andere Antworten auch für den Umgang mit neuen Kulturtechniken, Social Media, Web 2.0.

STANDARD: Also: Wie halte ich mich gesund und leistungsfähig - und somit meine Teams?

Heitger: Wenn Erschöpfung ein strukturelles Thema wird und quer über die Führungsbereiche auftritt, braucht es persönliche aber vor allem auch institutionelle Antworten. Ein gemeinsames "Big Picture", das genutzt wird, um konsequent zu priorisieren, agile Arbeitssettings, die Eigenverantwortung und unkomplizierte Zusammenarbeit ermöglichen. Andererseits geht es darum, explizit Räume zur Regeneration der Führungsmannschaft zu etablieren, etwa regelmäßige Frühstückssettings, bei denen informell drängende und auch persönlich wichtige Themen besprochen werden. In einem zweiten Schritt geht es um die Einführung der schon besprochenen Explore-Settings, in denen strukturiert und mit Vertretern wichtiger Außenperspektiven übergreifende strategische und komplexe Fragen bearbeitet werden.