"An der Wall Street ging es für mich immer nur um Angst und Gier", sagt Wall-Street-Aussteiger Sam Polk. Heute unterstützt er Familien bei einer gesunden Lebensführung.

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STANDARD: In welchem Moment haben Sie erkannt, dass Sie an der Wall Street doch nicht am richtigen Ort sind?

Polk: Als ich 28 Jahre als war, machte ich einen Trip nach Las Vegas. Wir hatten 5000-Dollar-Tickets für einen Boxkampf, wohnten in einem Luxushotel, hatten noble Dinner. In dieser Nacht gingen wir in einen exklusiven Club. Weil wir genug Geld hatten, bekamen wir dort einen tollen Tisch. Gegen Mitternacht gab es diesen einen Moment - in dem Club mit Freunden und schönen Frauen -, an dem ich merkte, dass ich mich trotz des Prunks und des Geldes so fühlte wie immer: leer und traurig.

STANDARD: Waren Sie vor der Wall-Street-Karriere auch schon leer und traurig?

Polk: Ja. Ich bin aufgewachsen in einer Familie, in der es nicht viel Geld gab. Mein Vater sagte immer: Eines Tages, wenn er genug Geld hat, wird alles gut werden. Das hat bei mir das Bild erzeugt, dass Geld alles richten kann. Als ich an die Wall Street kam, wollte ich nur viel Geld verdienen.

STANDARD: Wie lange hat es gedauert seit dem Moment in Las Vegas, bis Sie die Wall Street wirklich verlassen haben?

Polk: Fast drei Jahre. Die Leute haben darüber gelacht, dass ein Millionär Angst hat und den Job aufgibt. Aber egal, wie viel Geld ich verdiente oder welche Wohnung ich mir leisten konnte - ich hatte immer das Gefühl, es sei nicht genug. Obwohl ich wusste, dass ich genug Ersparnisse habe, hatte ich Angst, diesen Pfad zu verlassen.

STANDARD: Was hat Ihnen Kraft gegeben, es durchzuziehen?

Polk: Ich hatte damals bereits seit mehreren Jahren mit einer Beraterin gearbeitet. Jede Woche hatte ich ein Gespräch mit ihr über die Ängste aus meiner Kindheit. Mit der Zeit hat sie mir geholfen, einen Charakter zu entwickeln. Ich übernahm Verantwortung, habe die Menschen in meiner Umgebung besser behandelt. All das brachte mir die Kraft, mich zu entwickeln und von dem Leben abzuwenden, wo man in Geld gemessen wird.

STANDARD: Was haben Sie an Ihrem ersten Tag nach der Wall Street gemacht?

Polk: Der erste Tag war okay. Da hat das Telefon dauernd geläutet, viele Kollegen haben sich nach mir erkundigt. Schrecklich war der zweite Tag. Da hat niemand mehr angerufen. Ich war alleine in meiner Wohnung und realisierte, dass ich nur ein Typ bin, der einen Job hatte. Ich war bekannt an der Wall Street, aber das wird vergessen. Das Leben dort geht weiter. Ich hatte das Gefühl, wenn ich heute sterbe, würde es niemand mitbekommen.

STANDARD: Wollten Sie nie zurück?

Polk: Doch. Sechs Monate nach meinem Ausscheiden bekam ich ein Angebot für einen Top-Job. Ich ging zu einigen Gesprächen und sagte: Wenn ich zurückkomme, will ich die Zustimmung, dass 50 Prozent des Geldes, das ich erwirtschafte, in einen Charity-Fonds gehen, den ich betreibe. Ich glaube, die Leute dachten, ich sei übergeschnappt. Ich habe den Job nicht bekommen. Heute bin ich dafür dankbar. Das Jobangebot war, als würde man einem Drogensüchtigen Heroin anbieten.

STANDARD: Jetzt helfen Sie Familien und Kindern, sich gesund zu ernähren. Wie kam die Idee zum Projekt Groceryships?

Polk: Ich habe mein ganzes Leben mit meinem Gewicht gekämpft. Meine Eltern waren beide adipös, ich habe einen Bruder, der wiegt rund 200 Kilo. Als ich einen Film sah über übergewichtige Kinder aus armen Familien und die emotionalen Folgen, startete ich das Programm. Ich hatte eine harte Zeit als pummeliges Kind. Daher wollte ich etwas tun, um diesen Kindern und Eltern zu helfen.

STANDARD: Wie helfen Sie jetzt?

Polk: Wir vergeben Stipendien für Lebensmittel. Familien können sich für ein Sechs-Monats-Programm bewerben. Jede Woche bekommen sie 100 Dollar, um gesundes Essen wie Obst und Gemüse zu kaufen. Wir zeigen ihnen, wie sie diese Lebensmittel in ihre Ernährung integrieren können. Es gibt Kochkurse, Unterstützung beim Einkaufen und Ernährungsberatung. Ich glaube, dass es emotionale Gründe hat, wenn jemand stark übergewichtig ist. Bei mir war es so. Daher ist die emotionale Unterstützung Teil des Programms. Es gibt Gruppen, in denen Familien über ihre Fettleibigkeit sprechen können und darüber, warum sie über das Essen Kompensation suchen. Die Idee ist, Familien gesünder zu machen und ihnen eine Transformation zu ermöglichen.

STANDARD: Wie finanzieren Sie das Projekt?

Polk: Wir haben im April 2013 losgelegt. Ein Teil des Geldes kommt von mir, ein Teil von alten Wall-Street-Kollegen. Wir starten auch gerade ein Kooperationsprogramm.

STANDARD: Sie haben in der "New York Times" einen Artikel geschrieben und erzählen darin, wie leicht es als Banker war, Tickets für Spiele zu bekommen, Zugang zu ausgebuchten Restaurants etc. Vermissen Sie all das?

Polk: Ja. Ich gehe jetzt nicht mehr in solche Restaurants, wohne im Urlaub nicht mehr in den teuersten Hotels. Ich habe zwar genug Geld, lebe aber moderater. Ich vermisse es, aber jetzt habe ich zum ersten Mal das Gefühl, die Potenziale meines Lebens auszuschöpfen. An der Wall Street habe ich meinen Intellekt nur dazu genützt, mehr Geld zu machen. Ich habe mich immer auf ein Leben in der Zukunft vorbereitet. Auf eine Zeit, wenn ich einmal genug Geld habe. Jetzt fühlt sich mein Leben voller an. Jetzt lebe ich ein Leben. An der Wall Street ging es für mich nur um Angst und Gier.

STANDARD: Können Sie heute Geld ausgeben, einfach mal shoppen gehen, ohne Angst zu haben, dieses dadurch zu verlieren?

Polk: Ja. Heute habe ich einen großzügigeren und freigiebigeren Umgang mit Geld.

STANDARD: Ihr letzter Bonus betrug rund 3,75 Millionen Dollar. Was verdienen Sie heute?

Polk: Null. Ich lebe von dem, was ich an der Wall Street verdient habe.

STANDARD: Glauben Sie, dass die Banker durch die Finanzkrise etwas gelernt haben?

Polk: Nein. Es ist genauso wie vorher. Ich glaube, die Wall Street ist wie Alkohol in einer Bar. Wenn drinnen eine Gruppe steht und trinkt und einer kommt rein und sagt: "Hey Leute, draußen gibt es ein besseres Leben", dann sagen die: "Lass uns alleine." So wurde auch auf Occupy Wall Street und andere Kritik reagiert.

STANDARD: Haben Sie schon den Film "Wolf of Wall Street" gesehen?

Polk: Ja, ich finde ihn aber nicht gut. Der Film zeigt einen Kriminellen, der Frauen schrecklich behandelt. Die Figur hat nichts Ausgleichendes. Als ob ein Monster kreiert wurde. Meine Geschichte zeigt, dass die Leute an der Wall Street auch nur Menschen sind. Wir verbringen viel Zeit damit, diese Leute zu dämonisieren. Aber wer sagt, dass Sie nicht auch so geworden wären, unter diesen Umständen? Das heißt nicht, dass das Verhalten der Banker nicht anzuprangern und zu ändern ist. Aber der Film bietet nur eine Fläche, um die Leute dort zu verurteilen. (Bettina Pfluger, DER STANDARD, 1./2.03.2014)