Die Papierbranche stellt weniger Telefonbücher her, und auch den Herstellern von Uhren, Weckern, Notizbüchern, Kalendern und Radios geht es schlecht.

Foto: Hendrich

Kathrin Passig ist eine deutsche Journalistin und Schriftstellerin. Für ihren Text "Sie befinden sich hier" erhielt sie im Jahr 2006 den Bachmannpreis.

Foto: P. Peitsch

Schwerpunktausgabe 25 Jahre WWW

Klar, das Internet hat die Reisebüros aufgefressen, die Musikläden, die Videotheken und den Brockhaus. Den Zeitungen geht es nicht gut, die Buchhandlungen schließen, und den Bildungsinstitutionen ist auch schon ganz schlecht. Zum Ausgleich haben wir eine Unzahl von neuen Unternehmen bekommen, die "Irgendwasr", "MyIrgendwas" oder "Irgendwasiando" heißen. So weit, so alter Hut. Aber wer erzählt die Geschichte der wenig beachteten Leidtragenden, der unbekannten Profiteure von Digitalisierung und Internet?

Zu den Leidtragenden gehören zum Beispiel die Hersteller von Staubsaugerbeuteln. Noch vor wenigen Jahren war es unmöglich, im ersten Versuch die zum eigenen Staubsauger passenden Beutel zu kaufen. Man musste dreimal ins Geschäft, bis man zufällig die richtigen mit nach Hause brachte. Jetzt kann man direkt vor dem Regal nachsehen, wie der eigene Staubsauger heißt (in der Bestell-Bestätigungsmail von Amazon) und welche Beutel er benötigt (auf einer von vielen Staubbeutel-Bestimmungsseiten). Oder man kauft die Beutel gleich bei Amazon, dann braucht man nur die Bestellung vom letzten Mal rauszusuchen. Die Branche muss schmerzhafte Umsatzeinbußen hinnehmen.

Schwierig ist die Situation auch für die Hersteller besonders grässlich gemusterter Teppiche, Vorhänge und Möbel, die traditionell zur Einrichtung von Ferienwohnungen und -häusern dienten. Bebilderte Ferienhaus-Portale und das Auftauchen von Airbnb haben dazu geführt, dass zahlreiche Experten für 80er-Jahre-Ästhetik und sinnlose Kringel auf der Straße stehen oder nur noch Sitzbezüge für Busse und S-Bahnen designen.

Die Bahn muss inzwischen mehr Strom für den Betrieb der Gadgets ihrer Fahrgäste aufwenden als für die Fortbewegung der Züge. Das Problem verschärft sich dadurch, dass ein Großteil der Bevölkerung ständig im Zug herumfährt, weil es unterwegs manchmal kein Internet gibt, zum Beispiel in Tunnels, und man dadurch ein paar Minuten lang konzentriert arbeiten kann.

Auf der anderen Seite stehen die heimlichen Profiteure der digitalen Umwälzungen. In erster Linie sind hier Tee-Importeure zu nennen: Während der Tee zieht, will man nur mal kurz bei Facebook reinsehen und muss dann den 120 Minuten gezogenen Tee wegschütten und neuen machen, ein Vorgang, der sich mehrmals täglich wiederholt.

Auch die Hersteller von akkubetriebenen Epiliergeräten profitieren, denn wenn im ganzen Haushalt wegen der Digitalisierung keine einzige Zeitung zum Unterlegen mehr aufzutreiben ist, nicht mal ein Gratisanzeigenblatt, dann muss man sich die Beine über der Badewanne enthaaren. Bis dorthin reicht das Kabel aber wahrscheinlich nicht.

Höchst einträglich sind ferner alle Unternehmen, die Deckgläser für Mobiltelefone und Tablets anbieten. Ein solches Glas ist teuer wie Gold, aber nicht ganz so robust; alle Besitzer solcher Geräte brauchen also mehrmals im Jahr das entsprechende Ersatzteil, weil wieder ein vom Baum fallendes Blatt das Display touchiert hat.

Keine Sorgen um ihre Zukunft müssen sich auch die Hersteller von Sachen machen, die ungefähr drei Euro kosten. Ihre Produkte werden von den Konsumenten bei Amazon dazubestellt, die so die Gratisversandgrenze erreichen. Ein Buch kostet gerne mal um die 17 Euro, und hallo, da gibt es ja glutenfreie Haferflocken. Besser als Porto zahlen!

Die wirklich unsichtbaren Veränderungen aber vollziehen sich dort, wo sich positive und negative Entwicklungen aufheben. Von außen geht es der Branche genau wie immer, aber inwendig wird sie einmal vollständig umgewälzt. Brettspielverkäufe nehmen ab, weil alle nur noch auf dem Handy Quizduell spielen. Gleichzeitig nehmen Brettspielverkäufe zu, weil sich digitale Musik und E-Books so schlecht zu Weihnachten verschenken lassen.

Den Herstellern von Uhren, Weckern, Notizbüchern, Kalendern und Radios geht es schlecht, weil alle diese Geräte zu Software werden. Den Herstellern von Uhren, Weckern, Notizbüchern, Kalendern und Radios geht es gut, weil alle diese Geräte von banalen Alltagsgegenständen zu überflüssigen und damit teuren Luxusgütern werden.

Die Arztwartezimmer sind weniger voll als früher, weil man selbstständig im Internet recherchieren kann, ob das Jucken am Ellbogen ein Anzeichen für eine zügig zum Tode führende Krankheit ist oder nicht. Beziehungsweise wären sie weniger voll, wenn man nicht bei der Ellbogenjuckrecherche auf ganz andere beunruhigende Krankheitsbilder und vorzeitige Versterbensmöglichkeiten gestoßen wäre, die das Konsultieren von Experten ratsam erscheinen lassen.

Die Papierbranche stellt weniger Telefonbücher her und wird demnächst auch weniger sonstige Bücher herstellen, wenn die Abwanderung der Leser zum E-Book weiter fortschreitet. Die dafür gerodeten Wälder werden stattdessen zu Pappkartons verarbeitet, weil alle von früh bis spät Sachen im Internet bestellen. Gleichzeitig benötigen wir weniger Pappkartons, weil wir - siehe oben - weniger Gegenstände besitzen, die in Behältnissen aufbewahrt werden müssen. Weil wir uns aber von dem ganzen Zeug doch noch nicht so richtig trennen können (den Büchern zum Beispiel), wird es erst mal auf dem Dachboden, im Keller oder in Selfstorage-Hallen eingelagert, und zwar in Pappkartons.

Menschen, die tatsächlich überflüssigen Besitz loswerden wollen, können das über die diversen Marktplätze (Ebay, Amazon) viel einfacher tun als früher. Weil es gleichzeitig viel leichter ist, über Ebay und Amazon seine Sammlung historischer Nasenhaarschneider zu vervollständigen, bleibt aber auch die Menge des überflüssigen Besitzes gleich, und die Überflüssiger-Besitz-Branche floriert wie eh und je.

Bei Ikea hat man schon immer 98 Prozent des Gesamtumsatzes mit Billy-Bücherregalen gemacht, die jetzt niemand mehr besonders dringend benötigt, weil für eine E-Book-Sammlung schon ein einziges Billy-Regal ausreicht. Die Produktionskapazitäten und die frei werdenden Pressspanplatten werden in übergroße Sofas gesteckt, weil die Kundschaft nicht mehr ganztags in Shoppingmalls herumhängt, sondern auf dem Sofa, wo sie Amazon-Bestellungen tätigt und sich dem Binge-Viewing von Serien widmet.

Die eigentlichen Gewinner der ganzen Entwicklung aber sind natürlich Leute wie ich, die hauptberuflich im Bett herumliegen und das Internet durchlesen. Bei jeder Gelegenheit werden wir eingeladen, der Welt ganz genau zu erklären, was wir dabei über kleine flauschige Katzen herausgefunden haben, die in Swimmingpools fallen. Das ganze anderswo verschwindende Geld, die Umsatzeinbußen der Musikindustrie, der Verlage und des Katalogversandhandels, hier landet es, bei mir.

Ka-ching! (Kathrin Passig, Album, DER STANDARD, 8./9.3.2014)