Wikinger- Ausstellung in London: Die reisenden Krieger waren recht grobe Eroberer, aber auch künstlerisches Handwerk war ihnen nicht fremd.

Foto: The Trustees of the British Museum

Piraten, brutale Räuber und Vergewaltiger - oder doch vor allem geniale Handwerker, mutige Seeleute und Händler? Wie man die Wikinger aus heutiger Zeit beurteilen soll, darüber streiten sich Gelehrte seit vielen Jahrzehnten. Die Macher einer neuen Ausstellung im Britischen Museum haben sich für ein klares Sowohl-als-auch entschieden.

Das Image des blutrünstigen Eroberers sei "durchaus gerechtfertigt", glaubt Chefkurator Gareth Williams - die Spuren sind nicht zuletzt in Großbritannien bis heute zu besichtigen. Doch der Gelehrte zollt auch der Kunst der nordischen Goldschmiede und Schiffsbauer Anerkennung: Deren Produkte seien schon "ein unvergesslicher Anblick".

Im neuen Sainsbury-Flügel des ehrwürdigen Hauses dominiert solch ein Anblick die Ausstellung über "Leben und Legende" der Wikinger. Roskilde 6 heißt das 37 Meter lange Ungetüm aus makellosem Stahl, in dem einige arg verwitterte Schiffsplanken liegen. Das Kunstwerk dänischer Ingenieure stellt eine Hommage an die kunstfertigen Vorfahren dar: Die Überreste des gewaltigen Schlachtschiffs wurden 1997 im Fjord von Roskilde bei Kopenhagen gefunden. Rund 20 Prozent der Holzkonstruktion hatten seit knapp tausend Jahren im Schlick überlebt - genug, um die Ausmaße des furchterregenden Ungetüms nachzuvollziehen, das von bis zu 100 Besatzungsmitgliedern übers Wasser gepeitscht wurde.

Die Boote bringen Angst

Mit solchen und kleineren, flachen Booten verbreiteten die Wikinger zwischen 800 und 1050 rund 250 Jahre lang Angst und Schrecken. Die britischen Inseln können ein Lied davon singen: Der Überfall auf das Kloster Lindisfarne vor der Nordseeküste Nordenglands 793 begründete den Ruf der Nordmänner als brandschatzende Heiden, der sich in der damaligen Christenheit rasch verbreitete. 865 begann eine Armee dänischer Wikinger ihren Siegeszug, an dessen Ende weite Teile von Zentral- und Nordengland (Northumbria) zu ihrem Reich gehörten.

Freilich waren die furchterregenden Männer mit Schwertern und Helmen (aber ohne Flügel!) keineswegs immer erfolgreich. Davon zeugt in der Londoner Ausstellung, gleich neben Roskilde 6, ein sorgsam rekonstruiertes Massengrab, das Archäologen 2009 in der südenglischen Grafschaft Dorset freilegten. 50 kopflose Skelette zeugen von einem Massaker an einer der Piratenbanden, die in jenen Jahren die Küsten Westeuropas bis nach Marokko ebenso unsicher machten wie das heutige Nordkanada und die Flüsse Dnjepr und Wolga - bis ins Schwarze und Kaspische Meer.

Ein in London zu besichtigender Fund, den Hobby-Archäologen aus der Grafschaft Yorkshire 2007 machten, verdeutlicht die atemberaubende Ausdehnung dieses Handelsreiches: In einem kunstvoll verzierten, vergoldeten Silberbecher fanden sie einen goldenen Armreif und mehr als 600 Silbermünzen aus der Zeit um das Jahr 900. Sie stammen aus Skandinavien, aber auch aus Russland, Arabien und sogar Afghanistan.

Teil heutiger Identität

"Dieser Fund demonstriert, welch weitläufige Kontakte die Wikinger im 10. Jahrhundert hatten", analysiert Williams. "Der Norden Englands war Teil des Wikingerreiches, und die Wikinger sind Teil unserer heutigen Identität." Die Rückeroberung des Landesteils durch den angelsächsischen König Athelstan (924-939) im Jahr 927 und die darauf folgende Unruhe dürften einen reichen Wikinger dazu bewogen haben, seine angesammelten Schätze dem Erdreich anzuvertrauen.

Gewaltige Broschen zeigen den Besuchern: Zum Wikinger-Dasein gehörte wie in der Gegenwart auch die demonstrative Zurschaustellung von Glanz und Reichtum. Praktische Gesichtspunkte spielten dabei die geringere Rolle - "ganz wie bei heutigen Stöckelschuhen", sagt Williams und lacht. (Sebastian Borger, DER STANDARD, 15./16.3.2014)