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500 unbekannten Demonstranten, die an den Anti-Akademikerball-Protesten teilgenommen haben, wird Landfriedensbruch vorgeworfen. Der Paragraf war lange Zeit totes Recht.

 

Foto: apa/pfarrhofer

Strafrechtler erleben derzeit die Wiederauferstehung einer jahrzehntelang toten Rechtsnorm: Landfriedensbruch begeht, wer an einer "Zusammenrottung" teilnimmt, bei der es beispielsweise zu schweren Sachbeschädigungen oder Körperverletzungen kommt. Teilnehmer an einer solchen Ansammlung von Menschen sind mit bis zu zwei Jahren Haft zu bestrafen, wer als Rädelsführer identifiziert wird, dem drohen bis zu drei Jahre Gefängnis.

Der Paragraf 274 des Strafgesetzbuches stammt aus dem Jahr 1974, im 27-jährigen Zeitraum seit dem Beginn der Aufzeichnungen bis 2003 wurden nur 23 Verurteilungen gezählt, wobei sich 16 Verurteilungen auf das Jahr 1998 konzentrierten, in dem sich mehrere Hooligans nach Ausschreitungen vor Gericht verantworten mussten. Selbst die massiven Ausschreitungen bei den Opernballdemonstrationen 1989 und 1990, bei denen es zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei kam, zogen keine Verurteilungen nach § 274 StGB nach sich.

Seit wenigen Jahren lebt der Paragraf wieder auf: Allein von 2008 bis 2010 wurden 25 Personen wegen Landfriedensbruchs verurteilt, im Jahr 2012 schon 75 Personen. Der Trend könnte sich fortsetzen: Die Staatsanwaltschaft Wien ermittelt zurzeit gegen 500 unbekannte Täter, die sich im Zuge der Anti-Akademikerball-Demonstrationen an Ausschreitungen beteiligt haben sollen. Und nach Randalen bei einem Freundschaftsspiel zwischen Rapid Wien und dem 1. FC Nürnberg werden derzeit 46 Fußballfans als Beschuldigte wegen Landfriedensbruchs geführt.

"Gesetz hatte keine Bedeutung"

"Das ist ein Paragraf, den wir an der Universität nicht unterrichtet haben, weil er keine Bedeutung hatte", meint auch Strafrechtsprofessor Andreas Scheil von der Uni Innsbruck. "Das ändert sich jetzt."

Warum lebt der Paragraf wieder auf? Strafrechtler Scheil sieht den Grund für die zunehmende Bereitschaft, nach Paragraf 274 anzuklagen, in einer veränderten Risikolage: "Jahrelang war das kein Thema, weil es auf Demonstrationen in Österreich viel friedlicher zugegangen ist als in Deutschland oder Frankreich."

"Riskantes Verhalten"

Der Landfriedensbruchs-Tatbestand macht es möglich, dass Menschen bestraft werden, ohne selbst etwas angestellt zu haben – es reicht die Teilnahme an einer Veranstaltung, in deren Rahmen Sachbeschädigungen oder Körperverletzungen passiert sind. Strafrechtler nennen das "Risikostrafrecht": Nicht die Tat selbst wird bestraft, sondern schon ein "riskantes Verhalten". Im Fall des Landfriedensbruchs bedeutet das, dass man wissentlich teilgenommen hat. Man muss also nicht seine Zustimmung zu schweren Sachbeschädigungen oder Körperverletzungen äußern – es reicht schon, nicht eingeschritten zu sein oder sich nicht vom Tatort entfernt zu haben.

In der Praxis führt das zu komplexen Beweislagen: Ist jemand, der Sachbeschädigungen nicht gutheißt, die Demonstration aber nicht verlässt, schon schuldig im Sinne des Paragrafen? Ja, meint Scheil: Sobald man bemerke, dass im Rahmen einer Demonstration möglicherweise strafrechtlich relevante Vorkommnisse passiert sind, sollte man sich entfernen.

Kritiker befürchten durch den vermehrten Einsatz des Paragrafen bei politischen Kundgebungen eine Kriminalisierung legitimer Proteste. Sie befürchten, dass allein die Tatsache, dass man auf Videomaterial als Teilnehmer an einer Versammlung identifiziert wurde, für eine Anklage reichen könnte – sofern im Lauf der Kundgebung schwere Sachbeschädigungen oder versuchte Körperverletzungen passiert sind. 

Judikatur fehlt

"Das Risiko, dass auch Unschuldige verurteilt werden, ist sicher vorhanden", sagt auch Scheil. Dazu kommt, dass es zum Paragrafen 274 vergleichsweise wenig Judikatur gibt, es fehlt also an einer Verurteilungspraxis, die dem unbestimmt formulierten Gesetz engere Schranken setzt.

Der grüne Justizsprecher Albert Steinhauser glaubt, dass § 274 dem nun entschärften Mafiaparagrafen 278a den Rang ablaufen könnte: "Es ist zu befürchten, dass man damit weitgehende Observationsmaßnahmen rechtfertigen will." Die Ermittlungen im Tierschützerprozess hatten im Jahr 2010 zu einem Rekord bei fast 20.000 Grundrechtseingriffen, also beispielsweise E-Mail-Überwachung, geführt. Die Grünen fordern wegen "Missbrauchsgefahr" eine Abschaffung des Paragrafen. (Maria Sterkl, derStandard.at, 25.3.2014)