Bengoas "Still Life" basiert auf Georges Perecs gleichnamigem Essay (aus "Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler?").

Foto: M. Bengoa

Der begrenzten zweidimensionalen Fotografie Plastizität zu geben, sie zu materialisieren und angreifbar zu machen: Das ist seit mehr als zwei Dekaden deklariertes Ziel der chilenischen Künstlerin Mónica Bengoa, Jahrgang 1969.

Erst übertrug die national längst etablierte und seit der Biennale in Venedig im Jahr 2007 international aufstrebende Zeitgenossin und Kunstprofessorin an der Alma Mater in Santiago de Chile Alltagsfotografien auf Papier. Der Zeichnung und Malerei folgten zwischendurch Stickerei und Schablonentechnik mit Stoffen: "Bis ich bei meinem derzeitigen Lieblingsmaterial, dickem Filz, angekommen bin", schildert Bengoa.

Das Konzeptuelle dahinter nennt sie selbst "Fotografie in echter Handarbeit". So überträgt sie seitenweise Texte, seien es Enzyklopädien oder Botanikführer, auf die Filzbahnen: auch eine Hommage an die Lektüre und das Rezipieren als solches.

Im Zuge der Arco-Messe (Madrid) Ende Februar bot Bengoa mit ihrer Galeristin Isabel Aninat (Santiago de Chile) in der Sparte "Solo Projects" abseits all des Trubels einen Ort der Kontemplation. Für Still Life / Style Leaf (vier Objekte à je 184 x 290 cm, verkauft für 35.000 Euro) schnitt die Künstlerin den gleichnamigen Text des französischen Autors und Filmemachers Georges Perec (1936-1982), berühmt nicht nur für seinen "Roman" Das Leben. Gebrauchsanweisung (1978), aus.

Der Essay, der sich mit der Arbeit des Schreibens beschäftigt, umfasst 6535 Buchstaben. Aus den leicht zerknüllt kopierten Seiten trennte Bengoa diese Buchstaben erst mit einem Teppichmesser allesamt intakt heraus: "Es gibt keinen Spielraum." Penible Feinarbeit mit Nagelschere folgte.

Buchstabe für Buchstabe

"Sieben Monate habe ich gebraucht", sagt sie weiter: "Ich schnitt jede freie Minute aus. Wenn ich nicht gegessen, geschlafen oder Vorlesungen gehalten habe." Intensiver kann man sich Geschriebenem kaum mit seinen Händen widmen.

Ein Videoclip auf einem Tablet an der Wand zeigte den Schaffensprozess im Zeitraffer. Während der abfotografierte Text einen schier wegen seiner Dimension erschlägt, amüsieren die Lettern, die auf dem Boden unter jeder Doppelseite aufgehäuft liegen, nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten wirken sie wie Abfall. Worte an der weißen Wand bleiben.

"Der Film", wie sie betont, "ist eine schwarze Wand. Er wird erst rezipierbar durch die Klinge." Etwaiger Gefahren, seien es flinke Finger oder Staubsauger, zum Trotz "seien die Buchstaben noch vollzählig", sagt Bengoa. "Die Arco ist für uns und Bengoa prächtig gelaufen. Das Publikumsinteresse war enorm - und auch das Medienecho."

Großen Zuspruch habe es von Museen, die einen Künstlerinnen-Schwerpunkt setzen wollen, gegeben - wie auch von Universitäten, die Bengoas Arbeiten analysieren wollen, freut sich ihre Galeristin, Javiera García Huidobro, Co-Direktorin bei Aninat: "Still life / Style Leaf ist an einen Sammler aus Europa verkauft worden." Zudem habe man aus dem Katalog heraus einige weitere Transaktionen tätigen können. Eine Stiftung aus Mexiko stellte überdies in Aussicht, "aktuelle und frühere Arbeiten Bengoas zu erwerben". (Jan Marot, Album, DER STANDARD, 12./13.4.2014)