Zellen, die den Knochen kaputtfressen: Knochenmarkkrebs wird oft zu spät erkannt - in Tirol arbeitet man an Gegenstrategien.

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Innsbruck - Es sei wichtiger zu wissen, welcher Mensch eine Krankheit hat, als welche Krankheit der Mensch hat, soll der antike Arzt Hippokrates gelehrt haben. Ob unumstößlicher Stehsatz oder aus der Not belebtes Mantra - fast 2500 Jahre später finden seine Worte erneut Eingang in die moderne Krebsmedizin. Denn Krebs ist nicht mehr als der Überbegriff für verschiedene Erkrankungen, bei denen sich entartete Zellen unaufhörlich vermehren, während der Körper die Fähigkeit verliert, sie zu entfernen; der Grund, weshalb Krebs an sich unheilbar ist und jede Form ihre eigenständige Forschung braucht.

Was nun als neue Denkweise bezeichnet wird, ist also sogenannte "personalisierte Krebsmedizin". Der Mensch steht mit seiner individuellen Diagnose im Vordergrund, mit seiner persönlichen Genanalyse und den daraus ersichtlichen Mutationsmustern. Die Idee dahinter: eine maßgeschneiderte und dadurch erfolgversprechendere Therapie. "Jede Krebserkrankung ist so individuell wie der Patient selbst. Man muss Krebs nicht heilen können, man kann mit ihm leben", sagt Lukas Huber, Direktor der Abteilung Zellbiologie am Biozentrum der Medizinischen Universität Innsbruck und wissenschaftlicher Leiter von Oncotyrol.

Oncotyrol ist ein sogenanntes Kompetenzzentrum und wird im Programm Comet vom Wissenschafts- und Wirtschafts- sowie Infrastrukturministerium und vom Land Tirol gefördert. Seit 2008 verbindet die Forschungseinrichtung Wirtschaft und Wissenschaft in gemeinsamen Projekten - zu Beginn noch mit dem Ziel, einen international renommierten Forschungsstandort im Bereich Prostata- und Brustkrebs sowie chronischer Leukämie aufzubauen. "Wir mussten aber erkennen, dass man sich eine Nische suchen muss, um über österreichische Grenzen hinweg Vorreiter zu werden", sagt Onkotyrol-Geschäftsführer Bernhard Hofer.

Vergangenes Jahr hat man deshalb einen neuen Schwerpunkt gesetzt: auf das multiple Myelom, eine seltene und unheilbare Form von Knochenmarkkrebs. In dem Projekt wird nun weniger auf die geringe Wahrscheinlichkeit gesetzt, eine Zauberformel zu finden, die es heilt, sondern darauf, Strategien zu entwickeln, wie Patienten unterstützt von Medikamenten ihren Tumor handhaben können und man ihnen wieder mehr Lebensqualität schenkt.

Schleichende Erkrankung

In Österreich sterben jährlich etwa 300 Menschen aufgrund eines multiplen Myeloms. Es ist eine schleichende, chronische Erkrankung, die zumeist in der zweiten Lebenshälfte auftritt und Männer häufiger trifft als Frauen. Der Tumor siedelt zwar selten in die Haut oder andere Körperregionen ab, er aktiviert aber Zellen, die den Knochen kaputtfressen. Patienten sind zumeist kraftlos, leiden an Nierenstörungen und neurologischen Ausfällen. Zu Beginn sind die Zeichen jedoch so unspezifisch, dass ein multiples Myelom oft erst erkannt wird, wenn die durchschnittliche Überlebenszeit von acht bis zwölf Jahren bereits fast erreicht ist. "Wenn man diesen Krebs aber erkennt, ist er sehr gut kontrollierbar", sagt Huber.

Es gibt also keine Therapie, aber bereits wirksame Medikamente. In Tirol wird nun daran gearbeitet, diese zu verbessern. Dafür setzt man Krebszellen in eine Knochenmarksumgebung und lässt sie heimelig werden, sodass sie sich vermehren - eben wie in einem befallenen Körper.

In sogenannten chemischen Bibliotheken werden zehntausende Moleküle in reiner Form aufbewahrt, und aus diesen wird eines gesucht, das die Krebszellen tötet, ohne dass die Knochenmarkszellen dasselbe Schicksal ereilt. Ein neues Medikament sei derzeit in Vorbereitung, heißt es - in ein bis zwei Jahren soll es in die klinische Prüfung gehen.

Früherkennung per App

Ein zweiter Bereich, an dem Oncotyrol arbeitet, sind Computerprogramme, die Arzt und Patienten vernetzen und ihnen dadurch das Leben leichter machen sollen. Etwa eine App, über die der Erkrankte jeden Tag einträgt, wie es ihm geht, ob er nachts geschwitzt oder Schmerzen hat. Das Programm erkennt Probleme und schlägt beim Arzt Alarm, wenn die Behandlung geändert werden muss. "Der ständige Kontakt ist auch psychologisch wichtig", sagt Huber. In Krankenhäusern in Österreich und Italien werde die Applikation bereits erprobt.

Jedenfalls will Lukas Huber Krebspatienten Mut machen. Krankheit sei immer auch eine Frage der Wahrnehmung: "Wenn eine junge Frau zum Arzt geht und gesagt bekommt, dass sie in drei Jahren an einem Herzinfarkt sterben wird, wenn sie nicht damit beginnt, Sport zu treiben, sich besser zu ernähren und das Rauchen aufgibt, geht sie nach Hause und macht für ein paar Monate Diät. Dann wird wieder alles so wie zuvor. Geht eine junge Frau zum Arzt und bekommt Brustkrebs diagnostiziert, ist sie entsetzlich betrübt und schließt mit ihrem Leben ab. Doch das Sterberisiko ist dasselbe." (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 6.4.2014)