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Fans, die schon vor zehn Jahren Cobains Tod betrauerten (oben): "Als Kurt Cobain starb, war sogar ich traurig, obwohl ich bis dahin nie Nirvana gehört hatte", schreibt Andrea Stift über den 5. 4. 1994.

Foto: REUTERS/Anthony P. Bolante

TAKE 1

Wenn man über Kurt Cobain schreibt, muss man zulassen, dass einem die eigene Biografie im Rücken sitzt und über die Schulter spuckt. Musik ist wie Literatur eine große Liebe, sie prägt einen, und man will dieser Prägung eigentlich gar nicht entkommen; die schwärmerischen Erinnerungen, die daran haften, sind zu wertvoll. Als Nirvana plötzlich populär geworden war, gab es kaum jemanden, der von ihrer Musik unberührt blieb, so punkig, verrätselt, melodiös, krachend und verrotzt, wie sie klang. Zudem gab es da diesen enigmatischen Sänger mit seiner dornenvollen Stimme. Eine ganze Generation fand ihren Erlöser in ihm.

1974: Kurt Cobains Eltern stehen vor der Scheidung. Nach Monaten der Krisengespräche und einer Paartherapie entscheiden sie sich, der Kinder zuliebe zusammenzubleiben. Zur Scheidung kommt es nie, man rauft sich wieder zusammen.

TAKE 2

Als Nirvana berühmt wird, gehe ich ihrer Musik aus dem Weg. Ich verweigere stur zu hören, worüber plötzlich der ganze Schulhof spricht. Als Kurt Cobain sich erschießt, bin ich mit meiner Schwangerschaft beschäftigt, und so komme ich erst viel später, als alles schon wieder lange vorbei ist, zum Grunge. Und da bleibe ich dann auch. Ich höre Nirvana nur für mich, ohne Austausch mit Gleichgesinnten, denn die hören bereits wieder anderes. Sie ziehen sich auch schon längst wieder anders an. Ich aber schreibe ein ganzes Buch mit Nirvana in den Ohren. Ich kann Nirvana nicht einfach nur so hören, als Hintergrundrauschen, das ist mir auch heute noch unmöglich. Die Musik von Nirvana will mit einer bestimmten Stimmung gewürdigt werden. Wenn ich die Stimme Kurt Cobains höre, möchte ich dem Leben eine in die Goschn hauen, obwohl mein Leben das überhaupt nicht verdient. Ich hasse mich, aber sterben will ich noch lange nicht.

1990: Kurt Cobain laboriert seit längerem an einer Magenkrankheit. Jede Nahrungsaufnahme bereitet ihm Schmerzen. Zeitweise ernährt er sich nur von Milch-Shakes. Er zieht zwei Paar Jeans übereinander an, um nicht abgemagert zu wirken. Endlich gelingt es einem Gastroenterologen, eine Diagnose zu stellen. Die Krankheit bekommt einen Namen, Cobain's Disease, sie ist medikamentös gut behandelbar. Kurt Cobain nimmt ein paar Kilo zu und genießt sein neues schmerzbefreites Leben.

TAKE 3

Ich habe diese Wut in mir, die sich manchmal einen Weg durch meine zivilisierte Oberfläche bahnt, ein Schmerz, der gehegt werden will durch so ziemlich alles, was da gerade im Weg herumsteht: meine Vergangenheit, mein Aussehen, meine Unzulänglichkeiten. Im besten Fall nehme ich die Aggression und drehe sie nach außen, dann hasse ich den Rest der Welt. Kauende Menschen in der Straßenbahn, jegliche Form von Autoverkehr oder wenn mich einer bloß blöd anschaut. Und immer, immer reicht es schon, ein bisschen Nirvana zu hören, um mich in dieser hilflosen, aber glühenden Wut nicht unverstanden und einsam, sondern angenommen und aufgehoben zu fühlen. Komm halt, wie du bist. Ich höre Nirvana und die Stimme Kurt Cobains, und ich gehe mit, und ich drehe voll auf, und irgendwann habe ich es dann wieder überstanden. Zumindest für eine gewisse Zeit. Bis zum nächsten Mal. Im Gegensatz zu Kurt Cobain oder mir wird seine Musik immer da sein. Eine alte Erinnerung.

1992: Das Label, unter dem Nirvana unter Vertrag steht, hat mit ernsten finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen und geht schließlich pleite. Danach haben weder Krist Novoselic noch Dave Grohl oder Kurt Cobain Lust, weiter auf Tour zu gehen. Ein Jahr lang im Tourbus quer durch die Lande zu tingeln hat ihnen gereicht. Kurt Cobain verliebt sich und gibt das offizielle Ende Nirvanas bekannt. Es interessiert nur einige, wenige. GRUNGE IS DEAD.

TAKE 4

In den Dokumentationen über Kurt Cobain treten auf: frühere Kindermädchen, beklommene Exfreundinnen, Produzenten, eine liebenswerte Tante, beste und nicht so beste Freunde, Grundschullehrer, obligate Fotografen, so ungefähr alle. Der Detektiv, der von Courtney Love engagiert wurde, um den in den Tagen vor seinem Tod verschwundenen Kurt zu suchen, ist bis heute davon überzeugt, dass seine Auftraggeberin am Tod Cobains nicht unschuldig ist. Seit 2002 sind Kurt Cobains Tagebücher in Buchform erhältlich, zusätzlich gibt es Tonbandaufzeichnungen und Videomitschnitte, Fotografien und Zeichnungen. Das reichliche Material durch die eigene Wahrnehmung gefiltert ergibt das verzerrte Bild eines hochbegabten, aber zerbrechlichen Künstlers. Wie es wirklich war, das Leben und Sterben Kurt Cobains, kann ja doch niemand wissen. Schon eher, woran er gelitten hat: an der Scheidung seiner Eltern, bis ins Erwachsenenalter. An den Fans, die er sich nicht aussuchen konnte. An seinen Magenschmerzen, die er mithilfe harter Drogen auszublenden versuchte. An der verlustig gegangenen Freude an der Musik. An, an, an. Ein Leiden an der Welt. Ein andauernder Protest.

30. März 1994: Kurt Cobain besucht ein Sportgeschäft. Hier gibt es nicht nur Sportartikel, sondern auch grell beworbene (WE BUY USED!) GUNS. Kurt Cobain geht an der Abteilung mit den Waffen vorüber, bleibt kurz stehen und schaut sich um. Er spielt schon länger mit dem Gedanken, sich eine Waffe zuzulegen, man weiß ja nie. Dann zuckt er mit den Achseln und geht weiter. Er ist hier, um sich neue Laufschuhe zu kaufen.

TAKE 5

Mit Kurt Cobain starb eine Musikrichtung, bevor sie in den Leerlauf gleiten konnte. Mit Kurt Cobain verschwand die Möglichkeit, sich durch befreiende Kaputtheit aus der nicht nur pubertären Trostlosigkeit zu befreien. Als Kurt Cobain starb, war sogar ich traurig, obwohl ich bis dahin nie Nirvana gehört hatte - aber ich dachte an die Zeit im Schulhof, an die eigenhändig beschriebenen T-Shirts meiner besten Freundin (I'M SO UGLY THAT'S OKAY 'CAUSE SO ARE YOU), an die zersägten Hosen und langen Haare aller für mich relevanten Jungs. Irgendetwas war vorüber. Für mich begann es erst, aber das konnte ich da noch nicht wissen. Auch für viele andere begann es erst. Dass Cobain sich mit der in seinem Körper befindlichen Menge an Heroin unmöglich auch noch die Schrotflinte in den Mund hätte stecken können, ergo der Fans liebstes Feindbild Courtney Love hinter seinem vermeintlichen Selbstmord stecken würde, war eine der Theorien, die geboren wurden, als Cobain starb. Verschwörungstheorien als kleiner Trost gegen eine unumstößliche Tatsache. Well, whatever, never mind.

5. April 1994: Kurt Cobain nimmt sich ein Malzbier aus dem Kühlschrank, geht ins Freie und setzt sich vor dem Gewächshaus in die Sonne. Es ist ein warmer Frühlingstag, die Vögel zwitschern ihm ins Hirn, und er schaut seiner Tochter beim selbstvergessenen Spielen zu. Alles läuft rund. Courtney Love betreut seit der Scheidung einen anderen vielversprechenden Shooting-Star, und Kurt Cobain macht Musik erst mal nur mehr für sich selbst. Sein Geld hat er in ein Reinigungsunternehmen gesteckt, bald wird er seine neue Graphic Novel fertigstellen.

Ihr Titel: A denial. (Andrea Stift, Album, DER STANDARD, 5./6.4.2014)