Sechs Minuten und 47 Sekunden dauerte insgesamt der Applaus für den russischen Präsidenten Wladimir Putin, als er vor ein paar Wochen im Kreml die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation ankündigte. Danach jubelte die Menge auf dem Roten Platz "unserem Putin" und "unserer Krim" zu. Zur Begleitung russischer Popmusik skandierten die Leute "ein Land, ein Volk". Kurz zuvor tadelte Putin vor den Kameras die "Neonazis", die die Macht in der Ukraine ergriffen hätten.

Die "fünfte Kolonne"

Im Folgenden gab es verschiedene Vorschläge: den Europäischen Platz in Moskau in "Platz der Wiedervereinigung" umzubenennen; ein patriotisches Jugendlager auf der Krim einzurichten; der Nachrichtenagentur Itar-Tass ihren früheren Namen - "Telegrafenagentur der Sowjetunion" - zurückzugeben. Und dieser Tage nimmt sich der russische Patriotismus der Ostukraine an.

In seiner Rede erwähnte Putin die "fünfte Kolonne" der "Nationalverräter". Sowohl für die diversen Würdenträger im Kreml als auch für die "gewöhnlichen Russen" draußen war es glasklar, wer diese sind: die, für die keine Feier stattfand; die, die immer ein Haar in der Suppe finden wollen.

Ich bin ein Nationalverräter. Deshalb verstehe ich, dass die Krim nicht "meines" ist. Sie ist jetzt "seines" - nämlich des Kremls. Bald werden sie - Putin und seine Freunde - sich gegenseitig die Pfründe zuteilen. Bald werden dorthin die Milliarden - "unsere" Milliarden eigentlich - als finanzielle Unterstützung fließen, die aber besser dazu benützt werden könnten, dem russischen Kernland zu helfen. Bald wird die Krim in Korruption versinken und mit ihrer südlichen Romantik, mit ihren literarischen Assoziationen, mit ihren politischen Freiheiten für "uns" geschlossen werden. Und wenn ich "uns" sage, meine ich beide: die Verräter und die Anhänger, die auf dem Roten Platz ein Land, ein Volk grüßten. Aber dies wird die Telegrafenagentur der Sowjetunion, so wie alle anderen staatlichen Medien auch, nicht übertragen.

Der Westen ist eifersüchtig

Ihre einzige Aufgabe ist es, die Russen von der angeblichen moralischen Überlegenheit ihres Landes über den Westen zu überzeugen. Die USA und Europa seien einfach eifersüchtig, wird es heißen. Sie sind reicher, aber wir sind geistlicher - das ist die Message. Daraus folgt die Unfähigkeit der Russen, eine Niederlage zuzugeben. Daraus folgt die Bereitschaft, sich mit dem zu begnügen, was man hat - und folglich die zu verdammen, die etwas mehr wollen, eine faire Wahl zum Beispiel.

Der russische Patriotismus basiert auf Abwehr, nicht Entwicklung. Die Russen brauchen immer einen Gegner - eine "fünfte Kolonne" oder, viel besser, einen externen Feind. Antiwestliche Ansichten sind eine der wichtigsten Konstanten der russischen Geschichte, und wenn die Demonstrationen gegen Putin Moskau im Winter 2011/12 erschütterten, glaubte die Mehrheit des Volkes ernsthaft, dass wir - die "Nationalverräter" - Geld von den USA bekamen. So hieß es nämlich im staatlichen Fernsehen. Ich selbst war bei vielen Demonstrationen dabei; und ich habe niemals auch nur einen Rubel gesehen.

Der russische Patriotismus basiert auf Rückblicken, nicht Vorausblicken. Das Leben in der Vergangenheit war schön, die Gegenwart ist ziemlich okay, die Zukunft aber wird nur dann okay sein, wenn sie wie die Gegenwart oder, viel besser, wie die Vergangenheit ist. So berichtet es das Fernsehen. So glaubt es das Volk.

Jeder Versuch, diese Gesetzmäßigkeiten aufzubrechen, endet in einer paradoxen Situation. Gäbe es ein normales Bildungssystem, in dem man dazu ermutigt würde, selbst zu denken, dann könnten die Machthaber nicht so einfach manipulieren. Aber die Manipulierer werden natürlich nie solch ein System erlauben.

Ein "kollektiver Putin"

Aber will dies das Volk überhaupt? Wenn wir vermuten, dass Putin ein Symbol des Bösen ist, dann müssen wir feststellen, dass innerhalb vieler Russen ein "kollektiver Putin" lebt. Deshalb will das Volk nicht verstehen, wie zynisch Putin ist, wenn er die Ukrainer "Neonazis" nennt und die "demokratische" Wahl der Krimbewohner lobt. "Demokratisch" nannte er auch die manipulierten russischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Das Volk will nicht verstehen, dass die Feier darauf angelegt ist, sie von den sich verschlechternden ökonomischen Bedingungen abzulenken.

Im Endeffekt geht heute die russische Gesellschaft in die Brüche. Gegenüber dem Pussy-Riot-Skandal oder dem Anfang der Maidan-Proteste konnte man noch neutral bleiben, doch nun ist es nicht mehr möglich. Die die Kremlpolitik unterstützende "demokratische Mehrheit", von der Putin nun spricht, ist wirklich - leider! - eine Mehrheit. (Alexej Koroljow, DER STANDARD, 9.4.2014)