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Sprünge auf dem schmalen Grat der Wirklichkeit: Heinrich Steinfest 2011 in seiner Wahlheimat Stuttgart.

Foto: EPA/Marjan Murat

Ein Detailromantiker sei er, sagt Heinrich Steinfest von sich selbst und bietet nun mit Der Allesforscher, der ja im Titel den universellen Anspruch der Romantik trägt, neuerlich einen eindringlichen literarischen Beleg dafür. Diesmal ist es keiner der Kriminalromane, mit denen sich der in Stuttgart lebende Wiener eine breite begeisterte Leserschaft erschrieben hat und für die er mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet sowie für den Buchpreis nominiert wurde, keine der schrägen, vielschichtigen Geschichten um den einarmigen Wiener Detektiv Cheng oder um den Wittgenstein-Fan Chefinspektor Lukastik.

Der Allesforscher ist im charakteristischen Steinfest-Ton mit seinen literarischen Verweisen und Kunst-Motiven gehalten, es spielen von Anfang an auch hier Verletzungen und Tod ihre einschneidende Rolle. Fernab von Krimi-Ermittlungen ist der neue Roman wie zuvor Das himmlische Kind, worin es um lebensrettendes Erzählen geht, ein feines Werk der Sprachkunst, das romantische Vorbilder auf Abbilder der heutigen Wirtschafts- und Medienwelt treffen lässt.

Alles beginnt mit einem Paukenschlag des Schicksals, der unwahrscheinlich, ja geradezu surreal klingt und dennoch auf einem realen Ereignis vom Jänner 2004 basiert. In Tainan transportiert man einen verendeten Pottwal ab, seine inneren Gase bringen ihn zur Explosion, eines seiner Stücke trifft Sixten Braun gewaltig am Kopf und wirft diesen ehemaligen Hürdensprinter aus seinem zielstrebigen Leben eines deutschen Manager-Reisenden.

Während seiner Genesung verliebt er sich - romantisch gesagt: "unsterblich" - in die auf Taiwan tätige deutsche Ärztin Lana. Für seine Firma muss er darauf nach Japan, beim Rückflug stürzt die Maschine ins Meer. Er kommt zum zweiten Mal knapp davon, hat jedoch fortan einen anderen Passagier auf dem Gewissen.

Nach Katastrophen und großer Liebe ist der gewöhnliche Boden unter den großbürgerlichen Managerfüßen weg. Lana entzieht sich, und dann stirbt sie, die Neurologin, in Taiwan ausgerechnet an einem Gehirntumor; Sixten wird Bademeister in Stuttgart. Nach einigen Jahren meldet sich das taiwanische Generalkonsulat in der Gestalt einer aufregenden Mitarbeiterin: ob er nun seinen siebenjährigen Sohn, der nach Lanas Tod von einer Pflegemutter versorgt worden war, aufzunehmen gewillt sei? Aber als der kleine Simon in Deutschland ankommt, stellt sich heraus, dass er gar nicht Sixtens Sohn sein kann.

Der Mittelteil des Romans, der nicht wie alle anderen aus der Ich-Perspektive des Sixten Braun erzählt ist, führt auf eine Spur, die schließlich einen reichen, nach dem Lyriker Wystan H. Auden benannten Taiwanesen in Innsbruck landen lässt. Und hier, in den Tiroler Bergen, führen alle Wege, in Realität und Traumwelt, zusammen.

Dieses Wechselbad von Glück und Unglück, von Wassertiefe bis Alpenhöhe, mit Zügen eines modernen Märchens ist genüsslich lesbar, packend und zugleich vielschichtig. Dafür sorgen thematische und motivische Verknüpfungen sowie die typischen Steinfest'schen Kurzexkurse, alltagsphilosophische und doch bemerkenswerte Kommentare, etwa über den Fortschritt oder den Kulturpessimismus.

Sie bereiten weniger einen festen Boden der Weltbetrachtung, als sie eher infrage stellen. Das entspricht den Rätseln der Handlung, konzentriert in der Figur des rätselhaften kleinen Simon, der sich - und auch dies ist ein eminent romantisches Motiv - in einer allen anderen Personen unbekannten eigenen Sprache ausdrückt. Für ihn wird letztlich der Titel Der Allesforscher geltend gemacht.

Die Welt als Fälschung

Hinter alldem steckt die Frage, ob nicht die Welt anders sei, als wir glauben. Der alte "Allesforscher" aus Sixtens Vergangenheit hatte über Kunst gesprochen und zu bedenken gegeben, dass nicht nur Bilder gefälscht würden: "Was also, wenn diese Welt zwar tatsächlich von Gott stammte, aber trotzdem eine Fälschung war?"

Wie in den Krimis von Heinrich Steinfest erhält die geschilderte Realität Sprünge, bleibt einiges auf dem schmalen Grat der Wirklichkeit in Schwebe; und die Schwebe ist mit Alpinismus und Saalklettern, auch mit Hürdenlauf und Flug oder Sturz ein gewichtiges Motiv des Romans. Im Schlussteil spielen immer stärker die Träume ins Geschehen hinein. In einem davon erhält Sixten von seiner vor Jahren beim Bergsteigen verunglückten Schwester die Erklärung, wie Tote in Träumen der Lebenden auftreten können.

Indem sich in den Tiroler Alpen alles auf wundersame Weise trifft - Menschen und Zeichen, Sommer und Winter, Tod und Geburt -, erhält Steinfests Detailromantik den gebührenden, bildhaft romantischen Höhepunkt. In einer Berghütte herrscht ein wohltuendes Matriarchat, dort bereitet ein exotischer Auden Chen die berühmten Kaspressknödel zu; in einer höher gelegenen Hütte hängt eine Reihe von Fotos, auf denen alle Kontinente vertreten sind: "Und obgleich die verschiedenen Abzüge aus verschiedenen Zeiten stammten, verteilt über hundert Jahre, wirkten sie einheitlich, die Welt umspannend". (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 12./13.4.2014)